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Auf Spurensuche

Der Tag beginnt ganz wunderbar. Die Sonne sucht sich Ihren Weg durch die gegenüberliegenden Hausfassaden. Vielleicht ist es der Charme der Außenleitungen oder der Mix unterschiedlichster Fensterrahmen, die selbst den reizlosesten 70er-Jahre Bauten einen rustikalen Charme verleihen. Von dem offiziell verkündetem „Jahr der Ökologie“ ist hier noch nicht viel zu spüren. Sobald man die Nase aus dem Fester hält, stinkt es nach Abgasen. Für Fans von echten „Youngtimern“ muss Kaliningrad wohl ein Paradies sein. Das Frühstück im Hotel Tourist ist kontinental. Egal ob in Deutschland, Russland oder China: Kaffee als „Lebenselixier des Morgens“ heißt überall gleich.

Nach dem Frühstück geht es los. Eine Stadtrundfahrt steht auf dem Programm. Dass es eine halbe Stunde später wird, ist dabei ganz normal. Immanuel Kants strikte Pünktlichkeit hat sich nicht bis heute gehalten. Und doch sind die Spuren aus Kants Zeit unübersehbar. Wir quetschen uns durch den dichten Verkehr, vorbei an verspiegelten Shoppingcentern und grauen Plattenbauten. Ich bin zum ersten Mal in Kaliningrad. Gespannt schaue ich durch das Fenster, um Überreste aus der Zeit als Kaliningrad noch Königsberg hieß, zu entdecken. Es gibt sie reichlich, wenn auch oft im schlechten Zustand. Bewusst nehmen wir Kurs auf die alten Villenviertel, die nicht durch die Folgen des 2. Weltkrieges, den Bombardements der Royal Air Force, zerstört wurden. Die Kaliningrader sind stolz auf all das, was stehen geblieben ist. Auch immer mehr Neureiche bekennen sich zu den Traditionen Ihrer Stadt und stecken viel Geld in Wiederaufbau und Restauration.

Ehemalige Schrötterstraße
Jugendstil-Haus, Ecke Königsstraße

Vor dem größten Shoppingcenter der Stadt begrüßt ein Kant-Maskottchen jeden Gast, der sich in den Kaufrausch stürzt. Gegenüber prangt der Sowjetstern über dem mächtigen „Platz des Sieges“, dem früheren Hansaplatz. Und immer wieder bleibt das Auge an den goldenen Dächern der orthodoxen Kirchen hängen. Es ist eine dynamische Mischung unterschiedlichster Epochen. Jede Straßenecke sieht anders aus. Überbleibsel aus dem Pragmatismus der Sowjetzeit sind genauso prägend, wie stuckverzierte Gebäude aus der Zeit, als die Mächtigen der Stadt noch über die Geschicke Ostpreußens bestimmten.Ich mag es nicht zu beurteilen, wie es ist, wenn man noch das Stadtbild aus den Kindertagen vor Augen hat. Alles sei jetzt anders, bekommt man oft zu hören. Es ist gerade diese Unbeständigkeit, die mit jeder Straßenecke ein ganzes Stadtbild prägt. Auf die einen wirkt es erschreckend – es werden Erinnerungen wach. Auf mich wirken die Kontraste vitalisierend. Aber vermutlich gehöre ich mit meinen bescheidenen vierundzwanzig Jahren und ohne familiäre Wurzeln zu einer gewissen Touristen-Minderheit.

Platz des Sieges, ehemaliger Hermannplatz

Es ist wie schwarz und weiß. Gerfried Horst zeigt mir einen Gully-Deckel vor dem Bahnhof: „Königsberg i. Pr. 1928“. Es ist auch eine Spurensuche nach dem, was einmal war, eine Suche nach ostpreußischer Geschichte. Aber es ist nicht die Suche im leeren Raum, denn Kaliningrad lebt - wenn auch anders. Vermutlich ist es gerade das, was mich fasziniert.

Menschen bauen auf, entwickeln neue Ideen und wollen andere mit ihren Ideen anstecken. Ein gutes Beispiel dafür ist die Kronprinz-Kaserne, deren Name in großen Lettern noch immer am gewaltigen Wehrturm des Bauwerks angebracht ist. Heute soll dort Kunst hängen, wo ehemals ein altpreußisches Infanterieregiment einquartiert war. Man arbeitet daran, Ausstellungsräume der Kaliningrader Zweigstelle des staatlichen Zentrums für Gegenwartskunst einzurichten. Es wird ein Raum neuer Kreativität. An einem Ort, der nicht unbedingt für Kreativität bekannt war.

Kronprinz-Kaserne, Wehrturm, 1849

Anbau Kronprinzkaserne, heutiges staatl. Museum für Gegenwartskunst

Ausstellungsraum im staatl Museum für Gegenwartskunst, ehem. Kaserne

Der Königsberger Dom aus dem 14. Jahrhundert wurde wiederaufgebaut. Heute spielen dort Musiker aus aller Welt. Als eine Verabredung zu einer unserer Führungen platzt, bleibt Gerfried gelassen. So etwas könne in Russland vorkommen. Fünf Gehminuten entfernt befindet sich das Pregelufer, von dem wir mit dem Schiff ablegen. An der Uferpromenade (Fischdorf) hat man nicht gespart, um ein Disney-Königsberg nachzuempfinden. Nichts davon entspricht dem Original. An anderer Stelle, dort wo bis 1967 die Ruinen des Königsberger Stadtschloss ruhten, steht nun ein Betonblock mit Löchern. Er ist gewaltig und beeindruckend hässlich. Zum 750. Stadtgeburtstag, jenem Event, an dem Kaliningrad, Königsberg feierte, versuchte man wenigstens die Fester einzusetzen. Symbolisch steht das "Haus der Räte" für das Scheitern einer vergangen Zeit – Sowjetprunk par excellence.

Haus der Räte

Zurück im Hotel gibt es echte Königsberger Klopse, traditionell mit weißer Soße und Kapern. Laut einer Umfrage des Forsa-Instituts in Deutschland aus dem Jahre 2009 haben Königsberger Klopse mit 93 Prozent den größten Bekanntheitsgrad unter den regionalen Gerichten.

Unser Abend sollte nicht ruhig ausklingen. Mit großem Geist und steilen Thesen entließ uns Professor Wladimir Gilmanow von der Kant-Universität in einen langen Abend. Es wurde mir durch eine ebenso sinnliche wie erschreckende Weise bewusst, wie viel mich von diesem Intellektuellen trennte. Wir saßen angeregt bei Wein und Bier bis weit nach Mitternacht - eine echte Gesellschaft eben, ganz in der Tradition von Kant und seinen Freunden.

Anregende Disskussion mit Prof. Dr. Wladimir Gilmanov

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