
Michael Wiecks Krieg und Frieden: «Meine Wunden sind nicht vernarbt …»
Der bekannte Geiger, der in Königsberg geboren wurde, aber schon aus Kaliningrad abfuhr, als er seine Heimat für immer verließ, wird am 19. Juli 90 Jahre alt.
Vladislav Rzevskij
Er ist einer derjenigen deutschen Juden, die in Ostpreußen leben mussten, als es Teil des Dritten Reichs wurde. Nachdem Hitler an die Macht gekommen war, fand sich Michael Wieck wie Tausende anderer Königsberger im Rang eines „Menschen zweiter Klasse“ wieder. Das Leben im „braunen“ Königsberg verwandelte sich für sie in eine demütigende Existenz. Und dabei erkannte jeder: Sogar eine so schwierige Lage kann noch mit etwas viel schlimmerem enden …
Es gelang nicht, die Familie Wieck ins Todeslager zu schicken, wie viele andere. Wie sich die Nazis auch bemühten, sie schafften es nicht, im Rahmen der „Lösung der Judenfrage“ alle zu vernichten. So wurde Wieck ein seltener Augenzeuge all dessen, was bei dem Epochenumbruch in Ostpreußen geschah. Das sind auch die ungeheuerlichen Bombenangriffe auf Königberg im August 1944. Es ist auch die äußerst grausame Eroberung Königsbergs im April 1945. Es ist auch der Albtraum der Unglücksjahre nach dem Krieg in der Stadt, die in Ruinen lag.
Die Musik half ihm zu überleben. Wann immer es möglich war, spielte der junge Geiger – und das heilte irgendwie seine verwundete Seele. Die Geige hütete er, wie er nur konnte, denn „mit der Geige nimmt man ihrem Besitzer die Seele weg.“ Der Verlust des Musikinstruments wurde für ihn ein weiterer Schicksalsschlag. Wenn er zufällig Musik aus einem Straßenlautsprecher hörte, blieb er stehen und vergaß alles. Und als es die Möglichkeit gab, eine Geige zu kaufen – wenn auch eine sehr schlechte – gab Wieck für sie alles, was er hatte. Übrigens wurde sie bald eine Einnahmequelle – dem beginnenden Musiker erlaubte man es, zum Tanz aufzuspielen.
1947 begannen die Deportationen der Deutschen. 1948 verließ auch die Familie Wieck ihre Heimat. Nach und nach wurde er ein weltweit bekannter Violinist. Doch der Schmerz des Durchlebten ging nicht fort: „Meine Wunden vernarbten nicht.“ Auch sein Heimweh ließ nicht nach. Einmal flog er einem von einem Gastspiel aus Moskau nach Deutschland. Und plötzlich befand sich das Flugzeug über dem früheren Ostpreußen. „Man kann wie auf einer Landkarte die Umrisse der kurischen Nehrung erkennen, und ich zittere vor Aufregung“, beschreibt Wieck dann seine Gefühle. „Wir fliegen über Königsberg, und ich kehre in Gedanken in die Vergangenheit zurück: die Kindheit, die furchtbaren Kriegs- und Nachkriegsjahre. In einer Höhe von zehntausend Metern fängt es an, mir vorzukommen, als ob meine Seele sich vom Körper trennt und auf mein vergangenes Leben und Schicksal blickt …“
1991 erlaubte man es Ausländern, das Kaliningrader Gebiet zu besuchen, das früher für ausländische Gäste geschlossen war. Schon 1992 kam Wieck zum ersten Mal. Danach kam er noch oft zu uns. 2004 erschien die erste Ausgabe in russischer Sprache seines Buchs „Der Untergang Königsbergs. Zeugnis eines deutschen Juden“. Es erregte höchstes Interesse – und entgegengesetzte Meinungen. Einige Leser sagten: danke für die Wahrheit. Andere aber äußerten Empörung:
Die Sowjetmenschen sehen da schlechter aus als die Faschisten! Wo bleibt eine grundlegende Dankbarkeit? Unsere Leute haben ihn doch vor dem unvermeidlichen Tod gerettet …
2015 wurde „Der Untergang Königsbergs“ neu herausgegeben. Und in Kaliningrad fand die Präsentation der zweiten Auflage in Anwesenheit des Autors statt. Nach seinem Auftritt signierte er anderthalb Stunden lang seine Bücher für die Kaliningrader, die gekommen waren, um ihn zu treffen.
Gleichzeitig erregt „Der Untergang Königsbergs“ wie vorher bei vielen Ablehnung und Protest. Und jemand verlangt, das Buch als extremistisch zu betrachten und zu verbieten. Warum?
In diesem aufwühlenden autobiographischen Вekenntnis haben alle etwas abbekommen – die Nazis und ihre Besieger. Wieck ist zweifellos im Recht, in der Rolle des Anklägers aufzutreten. Allerdings hat wohl auch der Leser Rechte – auf Bewertung und auf seine Meinung.
Nach meiner Ansicht wäre es Unsinn, den „Untergang Königsbergs“ als eine Erscheinung von Extremismus zu betrachten. Dabei fällt es mir persönlich aber schwer, mit denjenigen zu streiten, die Wiecks Buch mehrdeutig nennen. Der Autor schreibt dort direkt: Als die Rote Armee kam, begann für ihn der zweite Kreis der Hölle. Und mir scheint, dass diese neue Hölle im Buch tatsächlich als noch schrecklicher dargestellt wird.
Nur muss man bedenken, dass es dafür eine Erklärung gibt. Wieck erwartete so sehr die Erlösung von denjenigen, für die er ein hassenswerter Jude war. Aber als ihre Macht schließlich endete, haben die Retter ihn nicht nur nicht als Opfer des früheren Regimes anerkannt. Für ihn unerwartet wurde er noch als Deutscher eingetragen. Und er musste alles teilen, was in den ersten Nachkriegsjahren ihr Los war. Also urteilen Sie selbst. Es ist eine Sache, von Feinden Qualen zu erleiden. Und eine ganz andere, ohne Grund unter seinen Rettern zu leiden …
Aus irgendeinem Grunde hat das Schicksal es so gefügt, dass Wieck auch diese Prüfungen erdulden musste. Viele, die weit stärker waren als er, zerbrachen darunter und starben. Aber er hat es ausgehalten. Dabei wurde er nicht verbittert und bewahrte alles Bessere in sich, das ihm zuteilgeworden ist.
Heute kommen in Stuttgart, wo unser Held lebt, aus verschiedenen Ecken der Welt Glückwünsche zum 90. Geburtstag von Michael Wieck an. Ungeachtet eines so beträchtlichen Alters interessiert sich der Jubilar weiterhin für alles, was in der Welt vorgeht. Er blickt mit Optimismus auf das Leben. Wie auch früher, liebt er es, Scherze zu machen und zu lachen. Und selbstverständlich spielt er jeden Tag auf seiner geliebten Geige.
Quelle: Vladislav Rzevskij, Wiecks Krieg und Frieden: «Meine Wunden sind nicht vernarbt …», URL:https://www.kaliningrad.kp.ru/daily/26857.4/3899758/