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Kant, Rassismus und Philosophie

 

Die seit etwa drei Jahren öffentlich geführte Diskussion darüber, ob Immanuel Kant Rassist gewesen sei, bricht nicht ab. Im Hinblick auf den 300. Geburtstag Kants am 22.  April 2024 wird sie wahrscheinlich sogar noch zunehmen.

Wird die Öffentlichkeit durch diese Debatte erfahren, welche Bedeutung Kants Philosophie für uns heute hat? Man wird auf alle Fälle erfahren, wie die jeweiligen Kant-Rezensenten einige Äußerungen des am 12. Februar 1804 verstorbenen Denkers einordnen, die der öffentlichen Diskussion über Kants vermeintlichen Rassismus immer wieder Nahrung geben. Er selbst kann dazu nichts mehr sagen. Aber seine Schriften sind allen zugänglich; jeder kann sie lesen und sich selbst ein Urteil bilden.

Hier ist allerdings eine Einschränkung vonnöten: Jeder, der lesen kann, kann Kants Schriften studieren, aber nicht jeder kann sie verstehen. Im 21. Jahrhundert ist die Sprache des 18. Jahrhunderts vielen fremd. Nach allgemeiner Auffassung muss man, um Kant zu verstehen, Philosophie studieren. Die meisten derjenigen, die sich in letzter Zeit zu der Frage, ob Kant Rassist gewesen sei, öffentlich geäußert haben, sind Professoren und Doktoren der Philosophie. Muss man es ihnen überlassen, uns zu erklären, wie Äußerungen Kants im 18. Jahrhundert heute zu verstehen und zu beurteilen sind? Ist die Befassung mit Philosophie allein den Ordinarien an den Universitäten vorbehalten?

Der Philosoph Karl Jaspers hat dazu eine dezidierte Meinung. Was er in seinem Buch Was ist Philosophie? dazu schrieb, lohnt, hier ausführlich zitiert zu werden:

 

   Erstens: In philosophischen Dingen hält sich fast jeder für urteils­fähig. Während man anerkennt, daß in den Wissenschaften Lernen, Schulung, Methode Bedingung des Verständnisses sei, erhebt man in bezug auf die Philosophie den Anspruch, ohne weiteres dabeizusein und mitreden zu können. Das eigene Menschsein, das eigene Schick­sal und die eigene Erfahrung gelten als genügende Voraussetzung.

Die Forderung der Zugänglichkeit der Philosophie für jedermann muß anerkannt werden. Die umständlichsten Wege der Philosophie, die die Fachleute der Philosophie gehen, haben doch ihren Sinn nur, wenn sie münden in das Menschsein, das dadurch bestimmt ist, wie es des Seins und seiner selbst darin gewiß wird.

 

   Zweitens: Das philosophische Denken muß jederzeit ursprünglich sein. Jeder Mensch muß es selber vollziehen.

 

Diese Überlegungen führen Jaspers zu der Forderung:

 

   Wir müssen uns befreien von der Vorstellung, daß das Philosophieren an sich und wesentlich eine Professorenangelegenheit sei. Es ist eine Sache des Menschen, wie es scheint, unter allen Bedingungen und Umständen, des Sklaven wie des Herrschers.

 

Abschließend stellt Jaspers die Fragen und beantwortet sie:

 

   Ist die Philosophie für Menschen als Menschen da oder für eine Elite, abgesondert, unter sich? Nur wenige sind, nach Platos Lehre, zu ihr fähig, und diese nur nach langer Schulung. Zweierlei Leben, sagt Plotin, gibt es auf Erden, eines für die Weisen und eines für die Menge der Menschen. Auch Spinoza erwartet nur von seltenen Men­schen Philosophie. Erst Kant denkt, der von ihm gebahnte Fußsteig könne zur Heeresstraße werden: Die Philosophie ist für alle; es wäre schlimm, wenn es anders wäre; die Philosophen verwalten und schaf­fen nur gleichsam das Depositum der Akten, in denen alles auf das sorgfältigste begründet sein soll.

 

Jaspers hat sich eingehend mit Kants philosophischen Schriften befasst und verstanden, dass sich diese an alle Menschen richten, die sich die für unsere Existenz grundlegenden Fragen stellen, die Kant wie folgt formuliert hat:

 

1) Was kann ich wissen?

2) Was soll ich tun?

3) Was darf ich hoffen?

4) Was ist der Mensch?

 

Die Antworten auf diese Fragen muss jeder Mensch für sich selbst finden. Aufgabe der Philosophie ist es nach Kant, den Menschen dabei zu helfen, über diese Fragen nachzudenken und eigenständig zu Antworten zu gelangen. In seiner Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen in dem Winterhalbenjahre von 1765-1766 schrieb Kant, ein Student der Philosophie

 

soll nicht Gedanken, sondern denken lernen; man soll ihn nicht tragen, sondern leiten, wenn man will, daß er in Zukunft von sich selbst zu gehen geschickt sein soll. … Nunmehr denkt er, er werde Philosophie lernen, welches aber unmöglich ist, denn er soll jetzt philosophieren lernen.

 

Im letzten Satz der Kritik der praktischen Vernunft hat Kant das Verhältnis zwischen Lehrenden und Lernenden definiert:  

 

   Wissenschaft (kritisch gesucht und methodisch eingeleitet) ist die enge Pforte, die zur Weisheitslehre führt, wenn unter dieser nicht bloß verstanden wird, was man tun, sondern was Lehrern zur Richtschnur dienen soll, um den Weg zur Weisheit, den jedermann gehen soll, gut und kenntlich zu bahnen und andere vor Irrwegen zu sicheren; eine Wissenschaft, deren Aufbewahrerin jederzeit die Philosophie bleiben muß, an deren subtiler Untersuchung das Publicum keinen Anteil, wohl aber an den Lehren zu nehmen hat, die ihm nach einer solchen Bearbeitung allererst recht hell einleuchten können.

 

Worauf es ankommt, hat Kant in seinem Aufsatz Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung in unsterblichen Worten formuliert:

 

     Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.

 

Seinen eigenen Verstand zu gebrauchen, erfordert heute in demokratischen Staatsordnungen eine andere Form von Mut als zu Zeiten Kants. Heute leben wir in einem Zeitalter der „politischen Korrektheit“, in dem es darauf ankommt, strenge Regeln einzuhalten, wie man politisch korrekt zu denken, zu sprechen und zu schreiben hat. Das soll dem Ziel dienen, die Interessen von Minderheiten zu schützen. Die in den 1980er/1990er Jahren an Universitäten in Nordamerika entstandene Bewegung der „politischen Korrektheit“ breitete sich auch in Europa und Australien aus und entwickelte sich in diesen „weißen“ Ländern zu einem Dogma, dessen Kerngehalt die Philosophin Susan Neiman in ihrer Dankesrede anlässlich der Verleihung des August-Bebel-Preises wie folgt zusammenfasste:  

 

   Der Universalismus der Aufklärung war eurozentrisch, ein Deckmantel für die Interessen weißer Männer, die die Welt beherrschen wollten und somit die Begründung für den Kolonialismus lieferten.

 

Dieses Dogma, so Neiman, sei „schwachsinnig“, weil es die Fakten auf den Kopf stelle:

 

   Die Aufklärung hat die Kritik am Eurozentrismus ja erst erfunden. Sie empfahl den Europäern, von anderen Völkern zu lernen, und hat ihre Kritik europäischer Zustände oft gerade aus der Perspektive anderer Kulturen formuliert.

 

Kant war wie jeder von uns ein Kind seiner Zeit und geprägt von den damals herrschenden Vorstellungen von der Welt. Er hat sein ganzes Leben in Königsberg, der Hauptstadt Ostpreußens, verbracht, mit einer Unterbrechung von wenigen Jahren in der ostpreußischen Provinz. Einen Schwarzafrikaner, einen Chinesen, einen Indianer, einen Inder (die Indianer nannte er übrigens „Amerikaner“, die Inder dagegen „Indianer“) hat er wie die meisten seiner europäischen Zeitgenossen wohl nie in seinem Leben gesehen. Jahrzehntelang hat er eine Vorlesung „Physische Geographie“ gehalten und die ganze Erde sowie Menschen, Tiere und Pflanzen beschrieben. Worauf beruhten seine diesbezüglichen Kenntnisse? Sein Schüler und Biograph R. B. Jachmann schrieb in seinem Buch Immanuel Kant geschildert in Briefen an einen Freund im fünften Brief: 

 

Am meisten aber studierte er die Schriften, welche uns mit der Erde und ihren Bewohnern bekannt machen, und es ist gewiß keine Reisebeschreibung vorhanden, welche Kant nicht ge­lesen und in sein Gedächtnis aufgefaßt haben sollte.

 

Was er gelesen hatte und als richtig annahm, gab er wieder. So zitierte er auch in seinem kleinen Buch Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (1764) den führenden Philosophen der schottischen Aufklärung David Hume (1711 – 1776) mit den Worten: 

 

   Die Negers von Afrika haben von der Natur kein Gefühl, welches über das Läppische stiege. Herr Hume fordert jedermann auf, ein einziges Beispiel anzuführen, da ein Neger Talente gewiesen habe, und behauptet: daß unter den hunderttausenden von Schwarzen, die aus ihren Ländern anderwärts verführt werden, obgleich deren sehr viele auch in Freiheit gesetzt werden, dennoch nicht ein einziger jemals gefunden worden, der entweder in Kunst oder Wissenschaft, oder irgend einer andern rühmlichen Eigenschaft etwas Großes vorgestellt habe, obgleich unter den Weißen sich beständig welche aus dem niedrigsten Pöbel empor schwingen und durch vorzügliche Gaben in der Welt ein Ansehen erwerben.

 

Wenn wir dieses Zitat heute lesen, empört es uns. Dreißig Jahre später, 1795, sprach sich Kant in seinem Traktat Zum ewigen Frieden für ein Weltbürgerrecht als „Besuchsrecht“ aus:  

 

Auf diese Art können entfernte Weltteile mit einander friedlich in Verhältnisse kommen, die zuletzt öffentlich gesetzlich werden und so das menschliche Geschlecht endlich einer weltbürgerlichen Verfassung immer näher bringen können.

Vergleicht man hiemit das inhospitale Betragen der gesitteten, vornehmlich handeltreibenden Staaten unseres Weltteils, so geht die Ungerechtigkeit, die sie in dem Besuche fremder Länder und Völker (welches ihnen mit dem Erobern derselben für einerlei gilt) , bis zum Erschrecken weit. Amerika, die Negerländer, die Gewürzinseln, das Cap etc. waren bei ihrer Entdeckung für sie Länder, die keinem angehörten; denn die Einwohner rechneten sie für nichts. In Ostindien (Hindustan) brachten sie unter dem Vorwande bloß beabsichtigter Handelsniederlagen fremde Kriegsvölker hinein, mit ihnen aber Unterdrückung der Eingebornen, Aufwiegelung der verschiedenen Staaten desselben zu weit ausgebreiteten Kriegen, Hungersnot, Aufruhr, Treulosigkeit, und wie die Litanei aller Übel, die das menschliche Geschlecht drücken, weiter lauten mag.

 

Mit diesem leidenschaftlichen Appell gegen den Kolonialismus zielte Kant im Wesentlichen auf die Engländer, Holländer und Franzosen, die damals die Welt unter sich aufteilten. Hat er damit sein Hume-Zitat aus dem Jahre 1764 wieder „gutgemacht“? Ich meine: Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Das Hume-Zitat entsprach der damals vorherrschenden europäischen Sicht auf die Völker Schwarzafrikas. Kants Appell aus dem Jahre 1795 aber ist seine eigene selbstständig erworbene Erkenntnis und eine zeitlose Beschwörung der weltweiten Humanität.

 

Der „David Hume Tower“, das größte Gebäude auf dem Campus der Universität von Edinburgh, wurde nach dem Tod von George Floyd in Nordamerika und als Auswirkung der Black Lives Matter-Kampagne im September 2020 umbenannt. Auf Betreiben des „Equality & Diversity Committee“ und des „Race Equality and Anti-Racist Sub-committee“ der Universität unterzeichneten etwas mehr als 1.700 Personen (von insgesamt 35.375 Studierenden im Studienjahr 2019/20) eine Petition und sprachen sich dafür aus, den Namen des größten Vertreters der schottischen Aufklärung von dem Gebäude zu entfernen. Es heißt jetzt einfach 40 George Square.   

 

Sollte auch die Kantstraße in Berlin und in vielen anderen Städten umbenannt werden?

 

Jedes Zeitalter glaubt, es sei den vorhergegangenen Zeitaltern überlegen. Unser gegenwärtiges Zeitalter der politischen Korrektheit tut das auf eine besonders selbstgerechte und unduldsame Art. Auch unser Zeitalter ist zeitgebunden, wie es auf andere Weise das Zeitalter Kants war, und es wird wie alles Zeitgebundene vergehen. Im Neuen Testament, Apostelgeschichte, Kap. 19, V. 19 steht:

 

Viele aber, die Zauberei getrieben hatten, brachten die Bücher zusammen und verbrannten sie öffentlich und berechneten, was sie wert waren, und kamen auf fünfzigtausend Silbergroschen.

 

Fast alle vorchristlichen griechischen und lateinischen Werke, ein Großteil der antiken schriftlichen Kultur, wurde von den frühen Christen als heidnisch vernichtet. Man kann das vielleicht als eine frühchristliche Form der politischen Korrektheit bezeichnen. Erst 1.000 Jahre später, in der Renaissance, fingen die Gelehrten an, sich wieder mit antiken Texten zu befassen, die in Klosterbibliotheken oder arabischen Übersetzungen auftauchten. Das Vernichtungswerk, auf das die frühen Christen stolz waren, betrachten wir heute als einen unwiederbringlichen Verlust für die Kultur der Menschheit. So sehr unterscheiden sich die Ansichten der verschiedenen Zeitalter.

 

Susan Neiman sagte in ihrer erwähnten Dankesrede:

 

Sicherlich gibt es Zitate der Aufklärer, die wir heute mit Recht als rassistisch und sexistisch verurteilen. Die Aufklärer waren Männer ihrer Zeit – und sie waren fast alle Männer – die wiederum von Männern früherer Zeiten geprägt waren. Die Sätze, die heutzutage ständig zitiert werden, widersprechen aber grundsätzlich ihren systematischen Arbeiten, die die Grundlage der Idee universeller Menschenrechte bilden. Sind wir weitergekommen als diejenigen, auf deren Schultern wir stehen? Na hoffentlich, hätten die Aufklärer gesagt, die immer auf selbstkritischen Fortschritt hofften.

 

Die Frage, ob Kant Rassist gewesen sei, ist legitim, trägt aber nichts zum Verständnis der Philosophie Kants bei, die einen Höhepunkt in der geistigen Entwicklung der Menschheit bildet. Seine Philosophie ist nicht zeitgebunden, sie richtet sich an alle Menschen aller Zeiten. Den Unterschied zwischen dem Zeitgebundenen und dem Zeitlosen bei Kant hat Egon Friedell in seiner Kulturgeschichte der Neuzeit meisterhaft dargestellt. Seine Ausführungen sind es wert, ausführlich zitiert zu werden:

 

   Wir müssen bei Kant allerdings zwei Wesenheiten unterscheiden, die fast völlig voneinander getrennt sind: eine zeitgebundene und eine zeitlose. In seinen Ansichten über Staat und Recht, Gesellschaftsordnung und Kirchenregiment, Erziehung und Lebensführung steht er ganz auf dem Boden der Aufklärung; wo immer er sich ins Gebiet der Empirie begibt, stimmt er mit den führenden Geistern seines Jahrhunderts im wesentlichen überein: in der Physik mit Newton, in der Theologie mit Leibniz, in der Ästhetik mit Schiller, in der Geschichtsbetrachtung mit Lessing. Als Philosoph aber, das heißt: als Erforscher der menschlichen Erkenntnis, war er ein völlig isoliertes Weltwunder, ein Gehirn von einer solchen formidabeln Überlebensgröße, Schärfe des Distinktionsvermögens und Kraft des Zuendedenkens, wie es auf Erden nur einmal erschienen ist. Ja er nimmt nicht nur in seiner Zeit, nicht nur innerhalb der Menschheit, sondern auch unter allen Philosophen eine völlig einzigartige Stellung ein. Konfuzius und Buddha, Heraklit und Plato, Augustinus und Pascal und alle übrigen philosophischen Geister von Unsterblichkeitsrang haben sublime Gedankendichtungen geschaffen; Kant hingegen war nichts weniger als ein Dichter, sondern ein reiner Denker, vermutlich der reinste, der je gelebt hat; was er gibt, ist nicht die individuelle Vision eines Künstlers, der durch die Wucht seiner Fantasie bezwingt, sondern die weltgültige Formulierung eines Forschers, der durch die Schlagkraft seiner Sagazität und Beobachtungsgabe überwältigt. … Er selbst hat sich als den Historiker der menschlichen Vernunft bezeichnet; man könnte ihn auch deren genialen Tiefseeforscher, Vivisektor, Detektiv heißen.

 

Und doch müssen wir sogleich eine Berichtigung vornehmen. Er war kein Dichter, kein Realisator selbsterschaffener Welten und ein Künstler höchstens in der lichtvollen sauberen Architektonik seines Systems, aber er besaß gleichwohl Fantasie, und zwar eine Form der Fantasie, wie sie, zumindest in dieser extremen, ja absurden Ausprägung, noch nie auf der Welt gewesen war. …

Dies nämlich war die Art seiner Fantasie: er vermochte sich Dinge anschaulich vorzustellen, die er nie gesehen hatte, ja die überhaupt noch nie ein Mensch gesehen hatte. Dieses Gebiet, das nur er leibhaftig, deutlich und genau zu erblicken vermochte, war die menschliche Vernunft, und diese Gabe macht ihn zum Unikum in der gesamten menschlichen Geschichte. …

 

   Es könnte scheinen, als gebe es noch in einem anderen Sinne als in dem soeben erörterten einen doppelten Kant.

 

   Da war ein Kant, der mit einer beispiellosen Scheidekunst alles zerlegte und auflöste, ein radikaler Revolutionär, dämonischer Nihilist und unbarmherziger Zerstörer des bisherigen Weltbilds. Da war aber auch ein Kant, der nichts anderes war als der kleine Bürger einer weltentlegenen Provinzstadt, altpreußisch, protestantisch, pedantisch, verwinkelt, konservativ, vor der Staatsallmacht, dem Kirchendogma und der öffentlichen Meinung kapitulierend, korrekt bis zur Genrehaftigkeit, Tag für Tag nach derselben genauen Einteilung lebend, so pünktlich um dieselbe Stunde das Haus verlassend, vom Kolleg zurückkehrend, zu Mittag essend, spazierengehend, dass die Nachbarn nach ihm ihre Uhren richteten. …

 

Bei der Diskussion, ob Kant nach heutigem Verständnis als Rassist einzuordnen ist, geht es allein um seine zeitgebundene Wesenheit, wie Friedell sie nennt. Wenn man sich auf diese Diskussion einlässt, wird man feststellen, dass der Begriff „Rassist“ immer auch Hass gegen andere Menschen einschließt. So wenig Kant damals von anderen Völkern auf der Welt konkret wusste, findet man doch bei ihm nie eine Spur von Hass. Man möge z. B. die Worte lesen, die er 1795 am Ende des dritten Definitivartikels zum ewigen Frieden schrieb und die heute unverändert gültig sind:

 

   Da es nun mit der unter den Völkern der Erde einmal durchgängig überhand genommenen (engeren oder weiteren) Gemeinschaft so weit gekommen ist, daß die Rechtsverletzung an einem Platz der Erde an allen gefühlt wird: so ist die Idee eines Weltbürgerrechts keine phantastische und überspannte Vorstellungsart des Rechts, sondern eine notwendige Ergänzung des ungeschriebenen Codex sowohl des Staats- als Völkerrechts zum öffentlichen Menschenrechte überhaupt und so zum ewigen Frieden, zu dem man sich in der kontinuierlichen Annäherung zu befinden nur unter dieser Bedingung schmeicheln darf.

 

Manches, was Kant zu Papier gebracht hat, mag aus damaliger oder heutiger Sicht nicht (mehr) haltbar sein. Sich kritisch mit seinen Werken auseinanderzusetzen und nach tieferer Erkenntnis zu streben, ist ganz im Sinne Kants. Beim Studium seiner empirischen, zeitgebundenen Schriften kann man einiges über Kants Zeitalter und sein Verhältnis dazu erfahren. Unvergleichlich viel erkenntnisreicher ist es jedoch, sich mit der grundlegenden Bedeutung der Philosophie Kants zu befassen. In einer Zeit, in der 1,4 Milliarden Chinesen durch ihre Regierung lückenlos elektronisch überwacht werden und in der Technologieunternehmen das Verhalten und die Bewegungen jedes Smartphone-Nutzers rund um den Erdball beobachten und aufzeichnen können, ist die folgende Feststellung Kants in seiner Kritik der praktischen Vernunft (1788) von bemerkenswerter Aktualität:  

 

   Man kann also einräumen, daß, wenn es für uns möglich wäre, in eines Menschen Denkungsart, so wie sie sich durch innere sowohl als äußere Handlungen zeigt, so tiefe Einsicht zu haben, daß jede, auch die mindeste Triebfeder dazu uns bekannt würde, imgleichen alle auf diese wirkende äußere Veranlassungen, man eines Menschen Verhalten auf die Zukunft mit Gewißheit, so wie eine Mond- oder Sonnenfinsternis ausrechnen könnte und dennoch dabei behaupten, daß der Mensch frei sei.  

 

Wie ist das zu verstehen? Sollten nicht darüber Artikel geschrieben und veröffentlicht werden, um Smartphone-Nutzern in aller Welt die Bedeutung der Philosophie Kants nahezubringen?

 

Egon Friedell hat in seiner Kulturgeschichte der Neuzeit darauf hingewiesen, auf welche Weise man die Lehren Kants aufnehmen sollte:

 

   Indem wir nunmehr versuchen, die Grundgedanken der kantischen Philosophie in Kürze darzustellen, müssen wir vorausschicken, dass man in ihr nicht, wozu ihr dozierender Ton und didaktischer Aufbau verleiten könnte, eine Lehre zu erblicken hat, die ein neues Wissen vermittelt, sondern einen Ruf zur geistigen und sittlichen Einkehr, der ein neues Sein fordert: sie ist ein Weg und kein Ziel, und um sie im richtigen Geiste aufzunehmen, bedarf es nicht bloß eines gewissen Interesses und Verständnisses für philosophische Probleme, sondern einer bestimmten Naturanlage, einer eingeborenen Richtung des Willens auf Wahrheit und Reinheit. Deshalb haben viele kluge und unterrichtete Menschen erklärt, Kant nicht begreifen zu können, und viele einfache und »unphilosophische« Köpfe in seinen Gedanken, die durch geheimnisvolle Kanäle zu ihnen drangen, den höchsten Trost und die tiefste Erleuchtung gefunden.

 

Wenn man Kants Philosophie kennenlernen will, muss man seine Werke lesen. Das ist ein mühevolles Unterfangen, aber unumgänglich, will man die Bedeutung dieses revolutionären Denkers erfassen. Über den Nutzen von Veröffentlichungen selbst ernannter Kant-Kenner, die es uns leicht machen wollen, Kants philosophische Gedankengänge zu begreifen, hat der Philosoph Arthur Schopenhauer in seinem Aufsatz Über die Universitäts-Philosophie  geschrieben: 

 

Aus den Darstellungen, die solche Leute liefern, vermeint dann wieder ein bequemes und nasegeführtes Publikum in kürzester Zeit und ohne alle Mühe Kants Philosophie sich aneignen zu können! Dies aber ist durchaus unmöglich. Nie wird man ohne eigenes, eifriges und oft wiederholtes Studium der Kantischen Hauptwerke auch nur einen Begriff von dieser wichtigsten aller je dagewesenen philosophischen Erscheinungen erhalten. Denn Kant ist vielleicht der originellste Kopf, den jemals die Natur hervorgebracht hat. Mit ihm und in seiner Weise zu denken, ist etwas, das mit gar nichts Anderm irgend verglichen werden kann: denn er besaß einen Grad von klarer, ganz eigentümlicher Besonnenheit, wie solche niemals irgend einem andern Sterblichen zu Teil geworden ist. Man gelangt zum Mitgenuß derselben, wenn man, durch fleißiges und ernstliches Studium eingeweiht, es dahin bringt, daß man, beim Lesen der eigentlich tiefsinnigen Kapitel der Kritik der reinen Vernunft, der Sache sich ganz hingebend, nunmehr wirklich mit Kants Kopfe denkt, wodurch man hoch über sich selbst hinausgehoben wird.

 

Um zu dem Genuss zu gelangen, Kants bedeutendstes Werk, die Kritik der reinen Vernunft zu erfassen, empfiehlt es sich, sich den Text als Hörbuch (https://fliegenglas.com/) von Jürgen Gergov vorlesen zu lassen und das Vorgelesene gleichzeitig selbst mitzulesen. Gergov liest jeden der häufig langen und von vielen Nebensätzen unterbrochenen Sätze Kants in einem Bogen, mit richtiger Betonung und passenden Pausen auf eine Weise, als würde Kant selbst den Zuhörern seine Gedanken vortragen. Zu Beginn könnte man sich auf die Vorreden zur ersten und zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft, auf die Einleitung und den ersten Teil, Die transzendentale Ästhetik beschränken; dann hätte man schon etwas davon erfahren, warum Kant sich an dieses Werk machte, und die ersten Grundsätze seiner Philosophie kennengelernt. Hilfreich für das Verständnis sind die Lese-Einführungen von Ralf Ludwig: Kant für Anfänger – Die Kritik der reinen Vernunft und Kant für Anfänger – Der kategorische Imperativ, die keine Darstellungen der Philosophie Kants sind, also sich nicht an deren Stelle setzen, sondern zu den Werken Kants hinführen und einem die gedanklichen Werkzeuge für die eigene Lektüre an die Hand geben.

 

Nicht jeder findet Gefallen daran, sich die Philosophie Kants ganz allein zu erarbeiten. Lieber sollte man mit einigen anderen, die sich ebenfalls dafür interessieren, einen Lesekreis gründen, der sich regelmäßig trifft und dessen Teilnehmer Texte Kants gemeinsam lesen und besprechen. Dort könnte man zum Einstieg kurze Aufsätze Kants lesen, z. B. Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?  sowie Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht und das kleine, mehr denn je aktuelle Buch Zum ewigen Frieden. Durch den Gedankenaustausch in der Gruppe würde man die beglückende Erfahrung machen, wieviel leichter es ist, sich zusammen mit weiteren Interessierten die Philosophie Kants zu erarbeiten. Es wäre zu wünschen, dass sich in der nicht mehr langen Zeit bis zum 300. Geburtstag Immanuel Kants am 22. April 2024 an vielen Orten Deutschlands, insbesondere in den oberen Klassen der zahlreichen Immanuel-Kant-Schulen, solche Kant-Lesekreise bilden.

 

Zum 200. Geburtstag Kants am 22. April 1924 veröffentlichte Karl Vorländer eine große Biographie mit dem Titel Immanuel Kant – Der Mann und das Werk, an deren Ende er schrieb:

 

   Kant muß in viel stärkerem Maße als bisher zur Macht in unserem L e b e n, dem des Einzelnen wie des ganzen Volkes wie am letzten Ende der gesamten Menschheit, werden. Das Eine vor allem, was den innersten Zug seines Wesens ausmacht: die geistige und sittliche S e l b s t b e s t i m m u n g, ist bei den Einzelnen wie bei den Völkern erst im Werden begriffen, ist bei den meisten nur triebhaft vorhanden, muß erst zu vernünftigem Wollen gesteigert werden.

 

Die Forderung, die Vorländer zum 200. Geburtstag Immanuel Kants im Jahre 1924 aufstellte, gilt unverändert auch zu seinem 300. Geburtstag im Jahre 2024. Die Zeit ist gekommen, um sich wieder stärker den zeitlosen Wahrheiten der Philosophie Kants zuzuwenden und mit ihrer Hilfe nach Lösungen für die Probleme unseres Zeitalters zu suchen.

 

Gerfried Horst

Vorsitzender

 

FREUNDE KANTS UND KÖNIGSBERGS e.V.

www.freunde-kants.com

© Gerfried Horst 2021

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