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Kant als Code
Prof. Dr. Wladimir Gilmanov

 

1. 
Mein Beitrag ist ein gewagter Versuch Kant, einerseits, angesichts der modernen Zivilisationsproblematik im allgemeinen zu aktualisieren, anderseits ihn als eine der denkbaren Personen für die lebenswichtige Ernüchterung in der Wechselwirkung zwischen Deutschland und Russland zu benutzen. 
Die erste geopolitische Grundthese meines Beitrags ist: Die Zukunft Europas, wenn sogar nicht der ganzen Menschheit, ist von Russland und Deutschland abhängig. Wenn die in den 90-er Jahren erklärte strategische Partnerschaft zwischen den beiden nicht neu aufgenommen und in einer neuen für alle vorbildlichen Qualität verwirklicht wird, dann bricht die ganze Weltarchitektur endgültig zusammen, entweder in dem letzten vernichtenden Weltkrieg oder in einem anderen Selbstvernichtungsprozess, der in der kantischen Rhetorik als „widernatürlich“ oder „übernatürlich“ bezeichnet werden kann. 
Diese eschatologisch geprägte Einführung will ich begleiten durch Erinnerung an den kleinen Text Kants „Über das Ende aller Dinge“ (1794),  symptomatisch verfasst praktisch gleichzeitig mit dem bekannten Friedenstraktat „Zum ewigen Frieden“. In dem Text ist Kants Szenarium der Zukunft in den drei Alternativen dargestellt:
1. „das natürliche Ende aller Dinge, nach der Ordnung moralischer Zwecke, göttlicher Weisheit, welches wir also (in praktischer Absicht) wohl verstehen können“;
2. „das mystische (übernatürliche) Ende derselben, in der Ordnung der wirkenden Ursachen, von welchen wir nichts verstehen;
3. „das widernatürliche (verkehrte) Ende aller Dinge, welches von uns selbst, dadurch daß wir den Endzweck mißverstehen, herbeigeführt wird…“.
Der Grundbegriff dabei ist das Verb „verstehen“, das immer wieder mit dem Pronomen „wir“ in Verbindung gesetzt wird. 
Ist es aber denkbar, dass wir – d.h. die Mehrheit der zivilisierten Menschen – also kollektiv missverstehen? Die Kantische bittere Ironie im Artikel „Zum ewigen Frieden“ ist ein indirekter Hinweis darauf. Und angesichts der heutigen globalen Probleme bewährt sich diese bittere Warnung Kants. Ob Kant aber zu berufen wäre für die Hilfe bei der Lösung?
Unter einer Voraussetzung ja und zwar: Kant ist zu verstehen nur unter der Voraussetzung, dass die Hoffnung der Aufklärungsepoche bis heute scheitert und dass die moderne Zivilisation dringend einer essentiellen Anthropologie bedarf, eines essentiellen verbindenden Metacodes. Die Globalgefahren sind selbstverschuldet durch den globalen Irrtum, dass die Erschließung der objektiven Naturgesetze  das widernatürliche oder übernatürliche Ende aller Dinge ausschließen könnte. Der dominante Code der Moderne ist physikalischer Objektivismus. Kant war einer der ersten, der in seinem kritischen Denken diesen Code als gefährliche Illusion entlarvt hat.
„Freilich, - behauptet Kant in „Zum ewigen Frieden“, - wenn es keine Freiheit und darauf gegründetes moralisches Gesetz gibt, sondern alles, was geschieht oder geschehen kann, bloßer Mechanismus der Natur ist, so ist Politik (als Kunst, diesen zur Regierung der Menschen zu benutzen) die ganze politische Weisheit und der Rechtsbegriff ein sachleerer Gedanke…“

2.
Gar nicht zufällig sind die meisten modernen Naturtheoretiker so immun und böse gegen Kant, oder gleichgültig. Böse ist z.B. der bekannte Physiker Frank J. Tipler, der in Deutschland gut bekannt ist durch sein sensationelles Buch „Die Physik der Unsterblichkeit“. In diesem Buch vertritt er das letzte Ideal der theistischen Physik unter dem Zeichen der „Omegapunkt-Randbedingung: Der Determinismus des Handelnden ist eine ontologische Letztendlichkeit“ (S. 254). Gar nicht zufällig wählt er gerade Kant als Antithese seiner These, indem er ihn kritisch zitiert und zu beweisen sucht: mathematische Physik sei eine sichere hermeneutische Grundlage für alles. 
Das ist der Punkt, wo heute auch im Zeichen des sich durchsetzenden Transhumanismus über die Zukunft entschieden wird, die Grundfrage Kants betreffend: Was ist der Mensch?“. Tipler versteht die ganze paradigmatische Wichtigkeit dieser Frage und deswegen äußert sich offensiv: „Für mich ist ein menschliches Wesen nichts weiter als eine besondere Art von Maschine, das menschliche Gehirn lediglich ein Gerät zur Informationsverarbeitung, die menschliche Seele ein von einem Gehirn genannten Computer durchgeführtes Programm…“ (S. 15). Dabei verheimlicht Tipler nicht, dass diese Maschine „Mensch“ nur im Wahrscheinlichkeitsmodus in Bezug auf sich und Welt denken kann.
Nach Kant darf sich reine Vernunft nicht mit einem gefährlichen Spiel einer  Wahrscheinlichkeit abfinden, deswegen sucht er in seiner reinen phänomenologischen Ehrlichkeit nach einem verbindenden „Faktum“ der sowohl gefühlsmäßigen, als auch intellektuellen Erkennbarkeit in jedem von uns, nicht aber in den perfekten mathematischen Wahrscheinlichkeitsmodellen der fortgeschrittenen Physiker. Dabei schließt er nicht aus, dass dieses Faktum – nämlich das sittliche Gesetz in uns im moralischen Gefühl des Gewissens auffindbar – mit der essentiellen Teleologie der Naturwelt verbunden ist. Deswegen ist die moralische Logik die natürliche, die einzige wirksame gegen die widernatürliche, die sich aggressiv durchsetzt. Auch in der Politik.

Essentiell heißt in der Logik eine Eigenschaft, ohne die das Ding nicht lange bestehen kann. Die Erkenntnis dieser Eigenschaft ist nicht nach Kant obligatorisch ein Ergebnis der high scool bilding, die Eigenschaft hat vor allem mit der Ehrlichkeit zu tun. Und bei Kant ist das Wort „Ehrlichkeit“ vorwiegend. Z.B. im „Zum ewigen Frieden“:
„Obgleich der Satz: Ehrlichkeit ist die beste Politik, eine Theorie enthält, der die Praxis, leider!) sehr häufig widerspricht: so ist doch der gleichfalls theoretische: Ehrlichkeit ist besser denn besser alle Politik, über allen Einwurf unendlich erhaben, ja die unumgängliche Bedingung der letzteren…“.
Die wohl einfachste Theorie für Ehrlichkeit lässt sich wohl in G.E. Lessings „Trieb nach der Wahrheit“ zusammenfassen. Von mir aus hat diesen Trieb sogar Otto von Bismarck demonstriert als er die Nachkommen warnte, mit Russland soll man nur ehrlich spielen und nie im Krieg sein. Oder Helmut Kohl, Europa ohne Russland wird nicht bestehen…

3. 
Kants Aufklärungsidee bedeutet letztendlich nichts als den Mut zu einer letzten Ehrlichkeit in jedem von uns, zu so einer Art Psychologie der ehrlichen Einfachheit, gleichfalls den Mut zu einer wahren Demokratie der weltbürgerlichen Gemeinschaft. Aber wenn schon heute Kant, dann eine neue radikale Aufklärung mit einem gewissen Mut zum Selbstzwang. 
Kant wurde mehrmals als ein philosophischer „Weltzermalmer“ erklärt. Vor allem hat aber seine Diktatur der Ehrlichkeit die deutsche Geistesgeschichte zermalmt im Spannungsbogen zwischen Nietzsche mit seiner Ehrlichkeit des Nihilismus und der Frankfurter Schule mit ihrer ehrlichen Soziologie einer humanen solidarischen Gesellschaft. Wer kann die Ehrlichkeit von Nietzsche oder Habermas bezweifeln? Was trennt aber diese Ehrlichkeiten und mit welcher Ehrlichkeit rechnet der „weltzermalmende“ Kant? Und warum lässt er uns bis heute nicht in Ruhe trotz der Tatsache, dass nach Kant die Weltgeschichte sich antikantisch entwickelt? 
Kant hat theoretisch diejenige Weltkonstruktion zermalmt, die sich - zu seiner Zeit skizzenhaft erkennbar - in der weiteren nachkantischen Geschichte durchgesetzt hat. Also der Königsberger Große wurde und wird allerlei verehrt, aber immer entweder ironisch wie von Goethe und Schiller, oder höhnisch erbittert wie von Nietzsche abgelehnt.
Und wie ist es mit der Kantischen Ehrlichkeit im Zusammenhang mit der mathematischen Ehrlichkeit der modernen Naturwissenschaften, deren Fortschritt die größte Hoffnung für die meisten bleibt?  Im kantischen Sinne  wäre die bekannte Anhäufung der naturwissenschaftlichen Untransparenz – von der Unschärferelation Heisenbergs in der Quantenmechanik bis zur dunklen Materie und Energie in der Kosmologie – eher ein Anzeichen für die notwendige Nachprüfung des Problems unseres heutigen Bewusstseins, was auch einige Prominenzen fordern, z. B. der bekannte US-Denker David Chalmers in seinem fragenden Buch „The Conscious Mind: In Search of a Fundamental Theory“ oder der Nobelpreisträger Erwin Schrödinger  in „Mind and Matter“.

        

4. 
Kant erscheint vielen schwer zum Verstehen, einerseits. Anderseits ist er ganz einfach, denn es geht bei ihm um das allerwichtigste Vermögen der Menschen – um das klare Denken!, um die Notwendigkeit unter allen Umständen die Vernunft in transparenter Richtigkeit anzuwenden, um die Notwendigkeit, denn „die Vernunft ist ihrer Natur nach architektonisch“.
Die Vernunft bringt das vom Verstand – vom Vermögen der Begriffe – verarbeitete Material „unter die höchste Einheit des Denkens“. Und in dieser „höchsten Einheit“, in diesem hermeneutischen Zirkel entwirft der Architekt – die Vernunft, was er bauen will. D.h. die architektonische Vernunft Kants ist informativ, d.h. formbestimmend. 
Hiermit ist Kant direkt einbezogen in den entscheidenden wissenschaftlichen Konflikt der modernen Zivilisation: Das ist der Konflikt zwischen dem dynamischen Paradigma des Universums, das den heutigen Standart ausmacht und direkt/indirekt alles beeinflusst – von Alltagsstrukturen des Individuums bis Globalpolitik – und dem Informationsparadigma, das in der Wissenschaft diskutiert, aber eher abgelehnt wird. Damit man besser versteht, was unter Information in diesem Streit der Paradigmen gemeint wird – und der Streit entfachte sich bereits zu Albert Einsteinszeit - , lohnt es sich provokatorisch auf die rhetorische Frage Einsteins hinzuweisen, die der bekannte Physiktheoretiker John Archibald Willer in einer der letzten öffentlichen Vorlesungen Einsteins gehört hat: In seiner negativen Reaktion auf die Meinung einiger bekannten Physiker, dass Bewusstsein durch Beobachtung (oder technische Geräte im Experiment) physikalische Wirklichkeit beeinflussen, d.h. formen, stellt Einstein die witzige Frage: „Soll ich also davon ausgehen, dass eine Maus, wenn sie das Universum, das All über mir, anguckt, in dem Augenblick den Zustand des Alls verändert?“
Im Rahmen des Informationsparadigmas wird diese Frage mit gewisser Vorsicht mit „Ja“ beantwortet, nur anstatt einer Maus ist es der Mensch!
Im sensationellen Informationsparadigma Kants – und er war in Physik und Mathe gut: einer der Begründer der modernen Theorie über den Ursprung des Sonnensystems, Teilnehmer an dem Streit über den wahren Satz des kinetischen Kräfte-Maßes, Theoretiker der notwendigen Dreidimensionalität der Raumgeometrie usw. – ist eine der Definitionen des Kategorischen Imperativs folgend: „Handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetze werden sollte“.
Trotz des dominierenden Triumphs des dynamischen Paradigmas, das von solchen renommierten Größen wie Einstein, Steven Hawking, Feymann, Gell-Mann, Weinberg, Higgs u. a. (die meisten sind Nobelpreisträger) vertreten wird, sind viele andere – unter ihnen Heisenberg, Wilhelm Pauli, Schrödinger u. a. – nachdenklich über das Problem der informierenden, also formenden, Kraft des Bewusstseins in Bezug auf Realität, vor allem Zeit und Raum als Formen der materiellen Welt. 
Das moderne Realitätsprinzip basiert auf dem wissenschaftlichen Standartmodell der Naturwelt als selbst-seienden dynamischen Mechanismus, dessen Mechanik sich mehr oder weniger genau, mit großer Wahrscheinlichkeit! (so z. B. Frank Tipler), erforschen und vorwegnehmen lässt durch mathematische Kombinatorik und mathematisch bedingte Theorien: das sind nichtrelativistische Quantenmechanik, das Standartmodell des Urknalls, die Theorie der universellen Wellenfunktion u. a. 
Im Mittelpunkt der Forschungsmethoden des dynamisch mechanischen Paradigmas liegt auch etwas, was auch mit der Information zu tun hat: Das ist die standart-theoretische Informatik, die voll und ganz mathematisiert ist. Also: die Mathe informiert und formt für Bewusstsein, was Realität ist. Das ist das Ideal der wissenschaftlichen Symmetrie.
Anders bei Kant, der in seiner Erkenntnistheorie einen Symmetriebruch zwischen Natur und Bewusstsein feststellt, obwohl er ganz genau behauptet, dass in jeder Naturlehre nur so viel „eigentliche“ Wissenschaft sei, als darin Mathematik anzutreffen ist (so im Aufsatz „Metaphysische Anfanggründer der Naturwissenschaften“). Das gilt aber nur für die Erscheinungswelt, die sich im Verstand durch a priori Strukturen mathematisch begreifen lässt. Das Ganze wird aber dadurch nicht ausgemacht! Deswegen behauptet Kant gleichfalls, was uns wiederum zu kritischer Ehrlichkeit beruft: „Eigentliche Wissenschaft (der Natur) erfordert einen „reinen Teil, der dem empirischen zum Grunde liegt…“, und dieser reine Teil, der nichts gegen Mathematik hat, beruft mich zum Sollen und warnt vor einem Spieler, der die Mathe durch deren prädikative Macht für Chimären der Eingebung, Illusionen, zerstörende Imaginationen ausnutzen kann. Dieser Spieler ist das sog. X in unserem Gemüt, das sich ohne Achtung auf regulative Prinzipien der Moral in der Erscheinungswelt auflösen kann im Gegensatz zu dem wahren „Ich“ in jedem von uns, welches „aus reinen Vernunftquellen schöpft, wo der spekulative Gebrauch der Vernunft in der Metaphysik mit dem Praktischen in der Moral notwendig Einheit haben muss“ (so im Aufsatz „Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können“). 
Dieses X von Kant wird bis heute auf fatale Weise sowohl individuell, als auch kollektiv ignoriert trotz einer Menge der Psychologietheorien, denn dieses X ist eine unfassbare un-strukturierbare Struktur in uns, von Kant in der „transzendentalen Dialektik der KrV“ definiert „als die einfache und für sich selbst an Inhalt gänzlich leere Vorstellung: Ich, von der man nicht einmal sagen kann, dass sie ein Begriff sei, sondern ein bloßes Bewusstsein, das alle Begriffe begleitet. Durch dieses Ich, oder Er, oder Es (das Ding), welches denket, wird nun nichts weiter, als ein transzendentales Subjekt der Gedanken vorgestellt = X, welches nur durch die Gedanken, die seine Prädikate sind, erkannt wird, und wovon wir, abgesondert, niemals den mindesten Begriff haben können; um welches wir uns daher in einem beständigen Zirkel herumdrehen, indem wir uns seiner Vorstellung jederzeit schon bedienen müssen, um irgend etwas von ihm zu urteilen…“.
In diesem X ist alles auf einmal vermischt, in einem verborgenen Spiel der dunklen Welten des Unterbewussten unter dem Zeichen des „radikalen Bösen in der menschlichen Natur“ („Religion innerhalb der bloßen Vernunft“). Deswegen ist Kant so kategorisch in Bezug auf die Notwendigkeit der Rationalität und der rationalen Psychologie, die davon ausgehen soll, was Kant meint, wenn er „von dem Hang zum Bösen“ in uns schreibt, von der „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ in uns, verkoppelt mit Feigheit und Faulheit, von den destruktiven Neigungen der Sinnenwelt in uns usw. 
Ist alles in der Tat so fatal in uns, was sich tief innerlich fühlen und erleben lässt und was so ein großes Misstrauen Kants verursacht? Und was in gewissem Sinne die ganze dämonische Irrationalität des Weltgeschehens im 20. Jahrhundert leider zu bekräftigen sucht?
Der bekannte jüdische Denker Martin Buber meint: Wie kann man in der Welt leben, in der es Ausschwitz gibt? Hans Jonas ist auch beinahe verzweifelt, erwidert jedoch: Fatalismus wäre eine Todessünde…
Kant, der vollkommene Rationalist und Realist ist trotz seiner radikalen Diagnose „über das radikale Böse in der menschlichen Natur“ kein Fatalist, weder im religiösen noch im materialistisch-naturalistischen Sinne. Und dabei rechnet Kant mit einem einzigen existentiellen Prädikat in dem Zirkel des dunklen X, das seine Reinheit in jeder Ehrlichkeit erkennen lässt: Das einzige Gefühl, dem jeder Mensch vertrauen kann – moralisches Gefühl, also Gewissen! „Ohne moralisches Gefühl ist kein Mensch“ (Metaphysik der Sitten), denn dieses Gefühl ist noch das einzige, was uns mit dem verlorengehenden Sein verbindet, in Kants Philosophie auch mit der Ewigkeit in der zeitlichen Reihe der Erscheinungswelt.
Wie einfach, groß und naiv!

5. 
Diese sog. Naivität ist aber einerseits geschützt durch eine perfekte Logik, die nicht von dem Mechanismus der Natur ausgeht, sondern von der entscheidenden Frage: Was bin ich? Die Kantische Einfachheit entrüstet vor dem Hintergrund der enorm verkomplizierten Theorien, die sich in der Weltgeschichte im Rausch des X-Spiels angehäuft und letztendlich auf entwürdigende Weise den Menschen zu einer unvollkommenen Biomaschine reduziert haben!
„Ein krankes Tier“ (Nietzsche), „denkende Materie“ (Stalin), „Lustmaschine“ (Lakan), „Leib ohne Organe“, „Grabstätte der Zeichen“, „dust in the wind“ usw. Wie kann Europa mit so einer Anthropologie auf die essentielle Zukunft der EU-Idee hoffen? 
Kein Gerichtshof in Gaag kann effektiv gegen so ein Menschenbild wirken in der Hoffnung auf Normalisierung. „Der Gerichtshof ist im Inneren des Menschen aufgeschlagen“ (Metaphysik der Sitten) und ohne verbindende essentielle Anthropologie dieses Gerichtshofes geht es nicht weiter. Nach Kant hat das Sein mit all seinen Formen in Naturwelt, Politik, Rechtswesen usw. nur eine Chance und zwar unter der Voraussetzung des moralischen Architekten in jedem Menschen, durch seine alltäglich formende sittliche Mühe, durch den Zwang der Selbstüberwindung am Rande der Repression gegen Neigungen, denn „Neigung ist blind und knechtisch, sie mag nun gutartig sein oder nicht“ (KpV). 
Wenn der Mensch sowohl in sich, inmitten seiner Sinnenwelt, und gleichfalls um sich herum in dem wohl unüberwindbaren Kausalnetz der Erscheinungswelt eine neue moralische Kausalkette durch seine Handlung initiiert, dann gewinnt er sich und den anderen die begehrte Freiheit!
Im Kantischen Licht befindet sich die moderne Zivilisation in dem gefährlichsten Zustand der Unfreiheit, die immer wieder mit der falschen Vorstellung über Freiheit verwechselt wird! In der Tat ist es der Zustand eines Marionettenspiels, wie Kant es bereits zu seiner Zeit erkennt:
„Das Verhalten der Menschen, so lange ihre Natur bliebe wie sie jetzt ist, würde also in einen bloßen Mechanismus verwandelt werden, wo, wie im Marionettenspiel, alles gut gestikulieren, aber in den Figuren doch kein Leben anzutreffen sein würde“ (KrV).   
Essentielle Freiheit sei die Erlösung von diesem bloßen Mechanismus!
Die moderne Zivilisation erweist sich in diesem aufklärenden Licht Kants eine legitimierte Form einer öfters bequemen Unfreiheit, einem „Marionettenspiel“ ähnlich. 

6.
Angesichts der globalen Gefahren ist Kant in seiner ehrlichen scheinbaren Naivität nicht einfach ein Anlass zu einer eskalierenden Präventivpsychose des Gewissens, sondern eine kritisch ausgewogene Ursache für die logisch berechtigte Rehabilitation einer moralischen Dialektik, die eine symbolische Ontologie aller Formen des Friedens bezweckt. Erstens zwecks der friedlichen Lösung der Selbstidentifikationsproblematik der Menschen im notwendigen Suchen nach einem Code der kommunikativen Intersubjektivität auch weltpolitisch, interkulturell. Und das trotz der scheinbaren notwendigen moralischen Repression gegen sich selbst: Denn Kants Code ist eine meine wahre Identität stiftende menschenwürdige (denn von mir selbst ausgeübt!) symbolische (denn auf dem „Faktum“ des Gewissens basierende) Gewalt (denn der Kategorische Imperativ) gegen die „Strukturgewalt“ des Todescodes sowohl in mir, als auch in den globalen Strukturen der modernen Zivilisation. Zweitens geht es um eine moralische Dialektik der Wechselwirkung zwischen Bewusstsein und materieller Wirklichkeit, deren Existenzformen – Raum und Zeit – mit eingeschlossen. Jean Baudrillard meint, im modernen, Spaß bringenden Spiel, werden Zeit und Raum aufgehoben. Kants kritische Philosophie entstand im 18. Jahrhundert nach dem Verlust der Transzendenz, heute laufen wir Gefahr die physikalische Immanenz zu verlieren.   


Beschluss
Also ist das Faktum: Im breiten welthistorischen und kulturpolitischen Horizont zeigt die moderne Zivilisation alle bekannten Symptome der paradigmatischen Systemkrise. Das Denken an Kant ist ein guter Anlass zum kritischen Umdenken und Nachprüfen, inwieweit die moderne technokratisch und materialistisch-monistisch geprägte Hermeneutik eine tragfähige ontologische und anthropologische Grundlage für das planetarische Überleben bleiben kann.


Kants kritische Stimme ist herausfordernd für das kritische Hinterfragen der essentiellen Problematik der Wechselwirkung zwischen Anthropologie und Realpolitik. Kant ist da eine Hoffnung, auch die auf das „Interim“ in dem sich zuspitzenden Kampf zwischen Leben und Tod, die Hoffnung auf die Rehabilitation der Praktischen Vernunft auch in der Realpolitik, unter der Voraussetzung der besonnenen Bereitschaft der modernen weltpolitischen Eliten zu einem weltumfassenden Interim in der sich verschärfenden Situation an den Konfliktgrenzen zwischen den Weltregionen. Das Interim wäre lebenswichtige Notmaßnahme zwecks der realpolitischen Blockierung der eskalierenden Globalgefahr und zwecks des Aufarbeitens der anthropologisch versöhnenden Grundlage eines ausgeglichenen weltumfassenden Paradigmas für den Ausgang  aus der Weltkrise.  


Ist nicht die höchste Zeit eine Kant-Friedensakademie unter UNO-Schirmbeteiligung einzurichten? Kaliningrad wäre „ein schicklicher Platz“ für das Projekt.
      
 

© Prof. Dr. Wladimir Gilmanov

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