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KÖNIGSBERG – KALININGRAD 
Die Suche nach der Identität
Gerfried Horst

Michail Iwanowitsch Kalinin wurde im Jahre 1875 im Gebiet von Twer am Oberlauf der Wolga als Sohn einer Bauernfamilie geboren. Er arbeitete als Dreher in einer Fabrik in St. Petersburg und trat 1905 in die Russische Sozialdemokratische Arbeiterpartei ein, die Partei Lenins. In der Zarenzeit wurde er mehrfach verhaftet und in die Verbannung geschickt. 1917 nahm er an der Oktoberrevolution teil. Da Kalinin nach Ansicht Lenins wegen seiner dörflichen Abstammung und seiner Tätigkeit als Fabrikarbeiter das Bündnis der Arbeiter und Bauern verkörperte, wurde er auf Lenins Vorschlag im März 1919 zum Vorsitzenden des Allrussischen Exekutivkomitees der Räte (Sowjets) und damit zum nominellen Staatsoberhaupt Russlands gewählt. Schon zu dieser Zeit dienten die Räteversammlung und ihr Vorsitzender Kalinin jedoch nur dazu, die Macht der Kommunistischen Partei, d. h. in Wirklichkeit ihres Politbüros zu verschleiern. Von 1922 an war Kalinin Vorsitzender des Zentralen Exekutivkomitees der Sowjetunion, das ab 1938 Präsidium des Obersten Sowjet hieß.

Kalinin gab sich den Anschein des gutmütigen alten Dorfbürgermeisters, an den sich die einfachen Leute mit ihren Sorgen wenden konnten. 27 Jahre lang war er Staatsoberhaupt. Im Politbüro schloss er sich immer der Mehrheitsmeinung an, die erst von Lenin und dann von Stalin bestimmt wurde.  Es gelang ihm, seine Stelle zu behaupten, weil er stets tat, was Stalin wollte. 1934 unterschrieb er eine Verordnung zur Änderung der sowjetischen Strafprozeßordnung, die es ermöglichte, daß in den folgenden Jahren Millionen von Menschen deportiert, in Lager gesperrt und erschossen wurden. 1938 wurde sogar Kalinins Frau verhaftet und wegen „Terrorismus“ zu zehn Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Ihr Mann blieb jedoch Staatsoberhaupt von Stalins Gnaden. Je weniger Macht er hatte, desto mehr wurde er mit Ehren überhäuft. Dutzende von Städten, Dörfern, Straßen, Fabriken und Hochschulen wurden nach im benannt. Seine Heimatstadt Twer erhielt schon im Jahre 1931 den Namen Kalinin; die entsprechende Verordnung unterschrieb er selbst. Am 3. Juni 1946 starb Kalinin. Es fügte sich, daß man gerade nach einem russischen Namen für die 1945 eroberte Hauptstadt Ostpreußens suchte. Einen Monat nach seinem Tode erhielt Königsberg durch einen von Stalin unterschriebenen Erlaß den Namen Kaliningrad und der unter sowjetischer Verwaltung stehende Teil Ostpreußens die Bezeichnung „Kaliningradskaja Oblast“. Seit 1959 steht Michail Kalinin überlebensgroß als Denkmal vor dem Hauptbahnhof der Stadt. Nicht nur die Stadt, auch der Platz, auf dem sein Denkmal steht, und die davon ausgehende Straße tragen seinen Namen.

In dem Geheimbericht eines vom Politbüro des Zentralkomitees der KPdSU während der Perestroika eingerichteten Untersuchungsausschusses vom 25. Dezember 1988 über den stalinistischen Terror im Zeitraum der dreißiger bis Anfang der fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts wurde auch die Rolle Kalinins untersucht und festgestellt, daß er für die willkürlichen Verhaftungen, Verschleppungen und Erschießungen von Millionen Sowjetbürgern mitverantwortlich sei. Als Konsequenz daraus empfahl der Ausschuß dem Obersten Sowjet, dem Ministerrat und sämtlichen Behörden der Sowjetunion, alle Beschlüsse zu widerrufen, durch die Städten, Dörfern, Straßen, Kolchosen und anderen Einrichtungen der Name Kalinins verliehen worden war. Kalinin an der Wolga heißt deshalb seit 1990 wieder Twer. Wäre Kaliningrad früher eine russische Stadt gewesen, trüge auch sie schon lange wieder ihren alten Namen. Weil die Stadt aber Königsberg hieß und die Hauptstadt Ostpreußens war, muß sie weiter Kaliningrad heißen, und das Kalinin-Denkmal steht noch immer am Kalinin-Platz.

Soll die Stadt Kants Kaliningrad heißen? Wenn man wissen will, ob Kaliningrad weiter so heißen soll, muß man wissen, wer Kalinin war. In seinem Aufsatz „Vom moralischen Antlitz unseres Volkes“ schrieb Kalinin: „Durch unsere Literatur, durch die Werke unserer besten Künstler des Wortes aber zieht sich wie ein roter Faden der Haß gegen das Böse als das edelste Gefühl und als eines der wirksamsten Mittel im Kampf gegen die Feinde der Menschheit …“ Und in seinem Aufsatz „Über kommunistische Erziehung“ führte er aus: „Die Geschichte hat uns die verantwortliche und ehrenvolle Aufgabe zugewiesen, unseren Klassenkampf bis zum vollen Siege des Kommunismus fortzuführen … Dazu müssen wir jedoch alle Werktätigen der UdSSR im Geiste des flammenden Patriotismus, im Geiste der grenzenlosen Liebe zu ihrer Heimat erziehen. Ich spreche nicht von einer abstrakten, einer platonischen Liebe, sondern von einer ungestümen, aktiven, leidenschaftlichen, unbezähmbaren Liebe, von einer Liebe, die kein Erbarmen mit den Feinden kennt, die vor keinerlei Opfern für die Heimat zurückschreckt“.

Immanuel Kant schrieb in seinem 1785 erschienenen Werk „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“: „Nun sage ich: der Mensch, und überhaupt jedes vernünftige Wesen, existiert als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen, sondern muß in allen seinen, sowohl auf sich selbst, als auch auf andere vernünftige Wesen gerichteten Handlungen jederzeit zugleich als Zweck betrachtet werden. … Der praktische Imperativ wird also folgender sein: Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“

Die Schriften Kalinins kennt heute keiner mehr; in keiner russischen Buchhandlung kann man sie kaufen. Der Staat, dessen Oberhaupt er war, hat sich in eine Vielzahl von Staaten aufgelöst; die Ideologie, die er verkörperte, ist Geschichte. Die Lehren Kants sind dagegen so allgemeingültig wie zur Zeit ihrer Entstehung. An Kant orientieren sich zahlreiche gesellschaftliche und moralische Konzepte der Gegenwart. Der „praktische Imperativ“ widerspricht der Forderung Kalinins, kein Erbarmen mit den Feinden zu kennen. Auch der Feind ist nach Kant ein Mensch und muß deshalb „als Zweck an sich selbst“ betrachtet, darf also nicht nachts von Agenten einer Geheimpolizei abgeholt und ohne Gerichtsverfahren erschossen werden, wie Kalinin es befürwortete.

Moralisch kann es auf die Frage, ob Kaliningrad weiter so heißen soll, nur die Antwort geben, die der Untersuchungsausschuß des Politbüros der KPdSU schon im Jahr 1988 gefunden hat. Politisch aber gibt es eine solche Antwort noch nicht.

Königsberg wurde im Jahre 1255 von dem Deutschen Ritterorden gegründet, der als Bruderschaft von Kreuzfahrern im Heiligen Land entstanden war. Der polnische Fürst Konrad von Masowien hatten den Orden 1225 ins Land gerufen, um ihm dabei zu helfen, die heidnischen Pruzzen (einen mit den Litauern verwandter Volksstamm) zu christianisieren. Im Gegenzug ließ der Hochmeister des Ordens Hermann von Salza von Kaiser Friedrich II. und  Papst Gregor IX. dem Orden die Herrschaftsgewalt in dem Gebiet übertragen.   Der letzte Hochmeister Albrecht von Brandenburg  wandelte auf den Rat Martin Luthers den Ordensstaat 1525 in ein weltliches Herzogtum um, führte die Reformation ein und gründete 1544 die Königsberger Universität. Am 18. Januar 1701 ließ sich Friedrich I. in Königsberg zum König krönen; seitdem war es die Krönungsstadt der preußischen Könige. 1724 wurde in Königsberg Immanuel Kant geboren, der bis zu seinem Tode 1804 in seiner Heimatstadt lebte. Ende August 1944 wurde Königsberg durch zwei britische Bombenangriffe zerstört. In den Ruinen kämpften die Reste der deutschen Truppen gegen die Sowjettruppen bis zur bedingungslosen Kapitulation der Stadt am 9. April 1945. Auf der Potsdamer Konferenz im Juli 1945 erklärten sich  Präsident Truman und Premierminister Churchill mit dem Wunsch Stalins einverstanden, Königsberg und das anliegende Gebiet an die Sowjetunion zu übergeben. Von den etwa 120.000 deutschen Zivilisten, die sich zu diesem Zeitpunkt noch in der Stadt befanden, starben in den folgenden drei Jahren etwa 100.000 durch Gewalt, Hunger und Krankheiten; die Überlebenden wurden 1948 nach Westdeutschland deportiert. Die Leiden der Menschen beschreibt Michael Wieck in seinem Buch: „Zeugnis vom Untergang Königsbergs – Ein ‚Geltungsjude“ berichtet“. Die deutsche Bevölkerung wurde durch Sowjetbürger aus allen Teilen der Sowjetunion ersetzt.Bis 1991 war das ganze Gebiet eine militärische Sperrzone, zu der westliche Besucher und sogar Sowjetbürger aus anderen Landesteilen keinen Zugang hatten. Seit dem Zerfall der Sowjetunion 1991 ist das Gebiet eine russische Exklave zwischen Litauen und Polen, die seit 2004 Mitglieder der Europäischen Union sind, also eine russische Insel innerhalb der Europäischen Union.   

Kaliningrad ist seit Juli 1946 der russische Name der Stadt. Die in dem Gebiet regierenden Politiker betonen immer wieder die untrennbare Zugehörigkeit der Stadt und des Gebietes zu Russland. Da Stadt und Gebiet nun einmal nach Kalinin benannt sind, haben Gouverneur Georgij Boos und Bürgermeister Juri Sawenko in diesem Jahr das 60-jährige Jubiläum Kaliningrads und der Kaliningradskaja Oblast gefeiert; den Namensgeber Kalinin erwähnten sie jedoch nicht. Am Kalinin-Denkmal werden keine Blumen niedergelegt. Nicht einmal die Altkommunisten kümmern sich um Kalinin; sie bemühen sich darum, das Lenin-Denkmal wieder aufstellen zu lassen, das vor über einem Jahr vom Siegesplatz (dem früheren Hansaplatz) entfernt worden ist. Eine geeignete neue Stelle hat die Stadtverwaltung bisher dafür nicht finden können.

Die Stadt heißt Kaliningrad; die Frage, warum sie so heißt, wird nicht gestellt. Stattdessen bezieht man sich auf Rußland. Auf dem Siegesplatz ist eine 28 Meter hohe Triumphsäule errichtet worden, die an den Sieg im Zweiten Weltkrieg und an die russischen Soldaten erinnern soll, die bei der Eroberung Königsbergs gefallen waren. In einer Botschaft des Gouverneurs und des Bürgermeisters an die kommenden Generationen, die in einer Kapsel in das Fundament der Triumphsäule eingemauert wurde, heißt es: „Wir, ihre Nachkommen, bieten alle unsere Kräfte und Talente auf, um unsere Bernsteinregion zum Aufblühen zu bringen. In uns lebt die Hoffnung, daß sich Reichtum und Schönheit der russischen Erde im Herzen Europas vergrößern!“

Die „russische Erde“ ist jedem Russen heilig. Der früher deutsche Boden des nördlichen Teils Ostpreußens hat sich in russische Erde verwandelt. Die bloße Eroberung des Gebietes und die Vertreibung der deutschen Bevölkerung genügen dafür nicht. Wenn eine deutsche Prinzessin einen Zaren heiratete, wie es seit dem 18. Jahrhundert immer wieder vorkam, mußte sie in die russisch-orthodoxe Kirche eintreten und in der Taufe einen russisch-orthodoxen Namen annehmen. So wurde in einem religiösen Akt aus der deutschen Prinzessin Sophie Auguste Friederike von Anhalt-Zerbst die russische Prinzessin Katharina Alexejewna, die spätere Zarin Katharina II., die Große. Es ist deshalb kein Zufall, daß als Abschluß der Feierlichkeiten zum 60. Jubiläum der Begründung des Kaliningrader Gebiets und der Umbenennung Königsbergs am 10. September 2006 Alexi II., der Patriarch  von Moskau und ganz Rußland, die gewaltige russisch-orthodoxe Christus-Erlöser-Kathedrale am Siegesplatz in Kaliningrad geweiht hat und Präsident Putin dazu in die Stadt gekommen ist. Wie Alexi sagte, sei die neue Kathedrale ein Zeugnis dafür, „dass dies russisches Land ist, dass dies orthodoxes Land ist.“

Zwei Moskauer, der Gouverneur Georgij Boos und der Vorsitzende der Gebietsduma Sergej Bulytschew, bestimmen die Politik im Kaliningrader Gebiet. Beide gehören der Partei Putins „Einiges Russland“ an. Das Bestreben der Regionalregierung, der Stadt und dem Gebiet eine russische Identität zu geben, geht von Moskau aus.

Äußere Zeichen der russischen Identität des Gebietes sollen ein Wappen und eine Flagge sein, an denen seit dem Herbst 2005 gearbeitet wurde. Das im Juni 2006 beschlossene Wappen wird vom Band des Lenin-Ordens umrahmt, der dem Kaliningrader Gebiet zur Sowjetzeit einst verliehen wurde. Die untere Hälfte des Wappens bilden blaue Wellenlinien als Sinnbild der Ostsee; darauf sind fünf goldfarbene Scheibchen zu sehen, die Bernstein darstellen sollen. Darüber erhebt sich auf rotem Grund eine silberne zinnenbewehrte Festungsmauer mit zwei Türmen, was bedeuten soll: Das Gebiet ist ein Vorposten Rußlands. Das Tor in der Mitte der Mauer ist geöffnet, als Zeichen der Offenheit des Gebiets zum Meer und Rußlands zur Welt. Über dem Tor erscheint der Namenszug der Zarin Elisabeth, und darüber ziert eine bernstein-goldfarbene, angeblich preußische Krone das Wappen. Die Flagge besteht aus einem breiten blauen und einem roten Streifen, die in der Mitte von einem schmalen gelben Streifen geteilt werden; auf der linken Seite des roten Streifens erscheint weiß das Festungstor des Wappens.

Diese Mischung aus sowjetischen, zaristischen, angeblich preußischen und frei erfundenen regionalen Motiven wurde in einem Artikel von Igor Schkelow in der „Kaliningradskaja Prawda“ Anfang Juni 2006 als Trugbild und abstrakte Theorie bezeichnet. Die Krone sei ein unhistorisches Kunstprodukt. Ein Symbol der Monarchie habe man zudem mit dem Band des Lenin-Ordens verbunden, obwohl doch Lenin am meisten zur Vernichtung des russischen Kaiserreichs beigetragen habe; im übrigen sei Lenin lange vor der Zeit gestorben, als Kaliningrad auf der Karte Rußlands erschien. Das Monogramm der Zarin Elisabeth sehe ähnlich aus wie das €-Zeichen und sei fehl am Platz, da die Zugehörigkeit des Gebietes zu Rußland nicht der Zarin Elisabeth, sondern Stalin zu verdanken sei; ein Monogramm des Buchstabens „J“ sei also angebrachter.

Auch in der letzten Lesung des Gesetzes über das Wappen und die Flagge des Kaliningrader Gebiets am 8. Juni in der Gebietsduma kritisierten einige Abgeordnete die Entwürfe; so wandten sich die Kommunisten gegen die Krone, die zu dem Kaliningrader Gebiet passe wie ein Sattel zu einer Kuh. Aber Putins Partei „Einiges Rußland“ verfügt über die absolute Mehrheit in der Gebietsduma. 21 der 34 Abgeordneten stimmten für die Entwürfe des Wappens und der Flagge, die somit anlässlich des Beginns der Feiern zum 60. Jahrestag der Gründung des Kaliningrader Gebiets Anfang Juli 2006 erstmals verwendet werden konnten.

Die Gebietsregierung sucht außerdem nach einer Hymne und hat dafür einen Wettbewerb ausgeschrieben. Bisher gingen nur Lieder ein, die nach Ansicht der Auswahlkommission eine Mischung aus russischen Volksliedern und Marschmusik darstellen. Zu sowjetischer Zeit gab es allerdings schon einmal ein Lied, das als Gebietshymne verwendet werden konnte. Es hat den Titel „Im ruhmreichen Jahre 45“. Sein Textdichter ist Pawel Turtschaninow. Mit Bezug auf die russischen Neusiedler heißt es dort:

„Keine Mühe scheuten sie,

aus Ruinen bauten sie

eine neue russische Stadt -

unser Kaliningrad.“

In dem Lied ist ansonsten von sowjetischem Land, dem Kommunismus und der Partei die Rede. Der Text müßte deshalb verändert werden. Es bleibt abzuwarten, ob tatsächlich ein Lied als Gebietshymne ausgewählt wird, das von „Kaliningrad“ handelt. Aber kann es eine Hymne geben, die den Namen des Gebiets verschweigt, das sie besingt?

Wappen und Flagge beziehen sich auf das Kaliningrader Gebiet. Auch Königsberg hatte ein Wappen. Grigorij Lehrman schreibt in einem 2005 in Kaliningrad veröffentlichten Buch dazu: „Das Wappen Königsbergs ist eines der ältesten und schönsten städtischen Wappen Europas. ... Ein Wappen ist der historische Ursprung, eine ewige, unvergängliche Urkunde, die den Menschen unabhängig von ihrer Volkszugehörigkeit und Sprache verständlich ist.“ Das Wappen sei der Hüter des geschichtlichen Gedächtnisses und mitunter zuverlässiger als die menschliche Überlieferung. Deshalb sei es so wichtig, die alten historischen Wappen Ostpreußens zu bewahren und den guten Sinn ihrer Symbolik zu erklären.

Die russische Sprache hat zwei Wörter für „Wahrheit“: „Prawda“, die Wahrheit im Sinne von Recht, Gerechtigkeit, und „Istina“, die Wahrheit im Sinne von Offenheit, Gewissheit, „Unverborgenheit“ entsprechend dem griechischen Wort „Aletheia“: die Wahrheit, die das Gegenteil der Lüge ist, die das wirklich Vorhandene, das Unverfälschte, das Echte bezeichnet im Gegensatz zu dem Erfundenen. Die „Istina“ kommt von der Erde und gehört zur menschlichen Vernunft; die „Prawda“ kommt vom Himmel und ist ein Geschenk der göttlichen Güte. Der Begriff der „Istina“ ist im russischen Volkscharakter tief verwurzelt. So erklärt sich die Kritik der „Kaliningradskaja Prawda“ an dem von der Gebietsduma beschlossenen Wappen: Es wird als ein Artefakt angesehen, als unecht. Das Königsberger Wappen ist dagegen ein echtes Wappen. Man kann deshalb voraussagen: Der Versuch der Gebietsregierung, ein künstliches Wappen und eine künstliche Flagge für das Kaliningrader Gebiet einzuführen, wird von der Bevölkerung nicht angenommen werden.

Die Suche nach dem Unverfälschten führt die in dem Gebiet geborenen und aufgewachsenen Menschen dazu, sich mit der Geschichte des Landes zu befassen, in dem sie leben, mit Ostpreußen. Dieses Interesse haben offenbar auch örtliche Wirtschaftsunternehmen entdeckt. In der Fußgängerunterführung zwischen den Einkaufszentren „Mega Market“ und „Mega Center“ in der Nähe des Nordbahnhofs steht man plötzlich vor einer die ganze Wand bedeckenden großen Karte Ostpreußens in seinen historischen Grenzen, von Marienwerder (heute in Polen) bis Memel (heute in Litauen). Darüber steht in großen russischen Buchstaben „Wostotschnaja Prussia“ (Ostpreußen); links daneben ist das Wappen Ostpreußens abgebildet, rechts die Flagge Ostpreußens, darunter das Wappen der Stadt und auf Russisch und Deutsch ihr Name: Königsberg, mit einer russischen Übersetzung der Bedeutung des Namens und einer kurzgefaßten Geschichte, die damit endet, die Stadt habe 424 400 Einwohner (2000). Daß sie nicht mehr Königsberg, sondern seit 1946 Kaliningrad heißt, wird nicht erwähnt. Auf der Karte Ostpreußens tragen alle Orte und Landschaften ihre deutschen Namen, geschrieben mit kyrillischen Buchstaben. Die übrigen Wandflächen der Unterführung sind mit großformatigen Bildern aus dem alten Königsberg dekoriert. Die Geschäftsleitung der Einkaufszentren „Mega Market“  und „Mega Center“ gibt den Kunden auf diese Weise das Gefühl, durch eine Straße Königsbergs zu gehen.

Dem Streben nach „Istina“ entspringt es auch, daß die Russen sich über das Unechte, Falsche lustig machen. Fast jede Zeitung hat eine Witzseite. Am 1. April 2006 forderte die Kaliningradskaja Prawda ihre Leser auf herauszufinden, bei welchen Artikeln in der Ausgabe dieses Tages es sich um Aprilscherze handele. Einer stand gleich auf der ersten Seite. Darin wurde berichtet, Arbeiter einer unbekannten Firma hätten am Vortag das Denkmal Kalinins von seinem Sockel abmontiert; es sei den Reportern der Zeitung bisher nicht gelungen festzustellen, wer das veranlaßt habe. Unter dem Artikel sieht man ein Foto des leeren Sockels des Kalinin-Denkmals. Auf Seite drei steht ein Bericht über den Besuch einer Delegation des Kaliningrader Gebiets in der Stadt Korolew bei Moskau, die früher ebenfalls Kaliningrad hieß und im Jahre 1996 nach Sergej Pawlowitsch Korolew umbenannt wurde, dem Begründer der russischen Raumfahrttechnik. Da Kalinin sich mehrmals in der Stadt bei Moskau aufgehalten habe, jedoch niemals nach Kaliningrad gekommen sei, hätten die beiden Stadtverwaltungen jetzt beschlossen, die Namen ihrer Städte zu tauschen; Korolew werde also wieder Kaliningrad heißen und Kaliningrad den Namen Korolew annehmen. Das passe gut, denn „Königsberg“ heißt auf Russisch „Korolewskaja Gora“.

Diese Aprilscherze zeigen, was die „Kaliningradskaja Prawda“ und wohl auch die Mehrheit ihrer Leser von Michail Iwanowitsch Kalinin halten. Wenn man könnte, würde man sich nur zu gern von dem Namen eines Mannes befreien, der mit der Stadt und dem Gebiet nichts zu tun hat und nicht einmal dort gewesen ist. Inzwischen scheint es üblich zu werden, beide Namen zu verwenden. Wenn man Ansichtskarten des Doms, des Königstors oder des von Marion Gräfin Dönhoff 1992 wieder errichteten Kant-Denkmals kauft, steht darauf meist „Königsberg – Kaliningrad“.

Der Name „Königsberg“ ist allgegenwärtig. In den Bekanntschaftsanzeigen der „Kaliningradskaja Prawda“ im Internet (www.kaliningradka.ru) wird der Wohnort der Kontaktsuchenden immer als „Kaliningrad (Kenigsberg)“ angegeben. Die Russen schreiben mit kyrillischen Buchstaben „Kenigsberg“ oder „Kjonigsberg“. In ihrer Aussprache klingt der Name der Stadt fast so wie in der der alten Ostpreußen, die „Keenichsbarch“ sagten. Die Jugendlichen nennen die Stadt „Kenig“ oder einfach „Kjon“.

 

„Königsberg“ ist ein Qualitätsbegriff. Ein Busunternehmen nennt sich schon seit Jahren „König Auto“. „Königsberg“ ist der Name eines Biers, und „Königsberger Festung“ der Name eines Wodkas. Eine Möbelfabrik Königsberg (www.kenigsberg.ru) bietet in ganz Rußland ihre Möbel „in der Tradition Preußens“ an, darunter eine „Berliner Möbelkollektion“, eine „Couch Bismarck“ und Garnituren unter den Modellbezeichnungen „Kaiser“, „Kanzler“, „Siegfried“ und „Wilhelm“. Ein seit kurzem in Kaliningrad erscheinendes Wirtschaftsmagazin führt den Namen „Novyj Kjonigsberg“ – „Neues Königsberg“. Das Hotel Sambia in Cranz (Selenogradsk) gehört zu der Firmengruppe „Königsberg Trading“. Auf großen Plakaten in Kaliningrad sieht man ein Brustbild Immanuel Kants und die Reproduktion eines seiner Briefe, mit Datum und der Ortsangabe „Königsberg“; damit betreibt die Ölfirma Lukoil Eigenwerbung für sich als Förderer des Kant-Museums.

Vor der 750-Jahrfeier der Stadt im Jahre 2005 gab es verschiedene Versuche, der Stadt den Namen Königsberg wiederzugeben. Eine Bürgerinitiative „Für Königsberg“ forderte die Abgeordneten der Gebietsduma auf, die Stadt wieder „Königsberg“ zu nennen. Der Aufruf ist von „Bürgern der Stadt“ unterschrieben, also anonym. Die Webseite dieser Bürgerinitiative http://www.enet.ru/~kc/aktkbg/ besteht noch immer, ist aber seit 2004 nicht mehr aktualisiert worden. Sie enthält eine Fülle von Argumenten, eine umfassende Darstellung des Lebens und der Taten Michail Kalinins sowie Stellungnahmen bekannter Persönlichkeiten Rußlands, die sich dafür ausgesprochen haben, die Stadt wieder Königsberg zu nennen. Dazu gehören der ehemalige Kulturminister Rußlands Mikhail Schwydkoj, der mit den Worten zitiert wird: „Kaliningrad ist eine russische Stadt; deswegen kann sie auch Königsberg heißen.“ Der Literaturwissenschaftler Wladimir Toporow führt aus, es sei für Rußland gewinnbringender, selbst den Namen Königsberg wieder auf die Landkarte zu bringen, als abzuwarten, bis dies unausweichlich werde.

Manche Kaliningrader Politiker, z. B. der frühere Vorsitzende der Gebiets-Duma Wladimir Nikitin,  lehnen jede Bezugnahme auf Königsberg ab, so auch z. B. den Wiederaufbau des Königsberger Schlosses, weil sie befürchten, diese „westliche Insel“ werde sich dann von Rußland entfernen und die Europäische Union und die Nato würden das Gebiet vereinnahmen. Diese Befürchtung ist jedoch grundlos. Die Menschen in dem Gebiet wollen Russen bleiben; doch sie suchen nach einer national-regionalen Identität, nach einer Entwicklungsperspektive für ihre Heimat. Sie wollen nicht in einem toten Winkel leben, eingeschlossen hinter schwer überwindlichen Grenzen, ausgeschlossen aus der Europäischen Union. Sie wollen auf ihre Heimat stolz sein und sich dort zuhause fühlen. Sie erkennen, dass sie in einer Stadt leben, die viele Jahrhunderte lang Königsberg in Preußen hieß, „eine große Stadt, der Mittelpunkt eines Reichs“, wie Kant in der Vorrede zu seiner „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“ schrieb, eine Universitäts- und Seehandelsstadt, deren Lage „mit angrenzenden entlegenen Ländern von verschiedenen Sprachen und Sitten einen Verkehr begünstigt“.

Königsberg ist „hip“. Das in Kaliningrad gestaltete „beste russische Portal der Indie-Musik“ hat die Web-Adresse: www.nurock-koenig.com. Die Kaliningrader Popgruppe „LP“ läßt auf ihre Konzertplakate drucken: „Gruppe LP, Königsberg, Rußland“. Diese Plakate verwenden die Musiker auch bei ihren Auftritten in Moskau, St. Petersburg und anderen russischen Städten. Ihnen erscheint der alte Name der Stadt schöner als „Kaliningrad“. Sie lieben ihre Stadt, die die europäischste aller russischen Städte sei, und haben nicht vor, nach Moskau zu ziehen; das ständige Hin- und Herfliegen sei teuer, aber die Heimat, ihre Geburtsstadt Königsberg, sei ihnen mehr wert.

Die Kaliningrader „Komsomolskaja Prawda“ veröffentlichte Ende April 2006 einen Artikel über die russischen Filme, die in Kaliningrad gedreht wurden. Es sind große Filme dabei, so der 1964 gedrehte Film „Der Vater des Soldaten“, in dem man noch die Ruine des Königsberger Schlosses sehen kann. Der letzte Film „über uns“, wie die Zeitung schreibt, war der Fernsehfilm „Eine Liebe in Königsberg“ von Peter Kahane. Noch vor der Erstausstrahlung im ZDF am 2. April 2006 wurde er in Kaliningrad zweimal im Kino gezeigt, was die Einwohner der Stadt stolz machte. Die „Komsomolskaja Prawda“ wollte wissen, wann wieder einmal ein russischer Film in Kaliningrad gedreht werde, und fragte deshalb in dem führenden russischen Filmstudio „Lenfilm“ in St. Petersburg an. Dort erklärte man ihnen in der Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit: „Alles, was man bei euch filmen kann, kann man auch irgendwo anders filmen. ... Es ist einfacher, nach Jamaika zu fahren oder nach Hongkong. Wenn man wegen des Drehbuchs die Ostseeküste braucht, hat man die auch bei St. Petersburg oder in Litauen. Und einmalige malerische Landschaften gibt es im Kaliningrader Gebiet nicht.“ Wenn man in Kaliningrad wolle, daß mehr gefilmt werde, müsse man das Gebiet attraktiver machen, z. B. Kaliningrad in Königsberg umbenennen. Die Zeitung veröffentlichte diese Stellungnahme unter der Schlagzeile: „Was die Experten sagen: Ändert den Namen in Königsberg, dann kommen wir!“

In jüngster Zeit scheint sich die Gebietsregierung der Entwicklung etwas anzupassen. Sie übernimmt damit zwar nicht die politische Führung in einem Prozeß, dessen Richtung ihr nicht gefällt, aber sie stellt sich der Entwicklung auch nicht mehr wie bisher entgegen. Vor deutschen und russischen Journalisten nannte der Gouverneur Georgij Boos im Mai den Abbruch des Königsberger Schlosses im Jahre 1969 einen „barbarischen Akt von Vandalismus“ und kündigte an, das historische Zentrum Königsbergs werde nach alten Vorbildern wieder aufgebaut. Das Schloß solle zwar nicht originalgetreu wiederhergestellt werden, aber doch in Teilen, verbunden mit dem Prussia-Museum und einem Hotel erster Klasse. Nicht nur Teile des Schlosses, sondern auch der es umgebenden Altstadt sollen wiedererstehen. Parallel dazu werde man eine moderne, postsowjetische, europäisch-russische Stadt errichten. Das heutige Kaliningrad werde dann eine andere Stadt werden. Zu dieser Stadt werde der Name Kaliningrad nicht mehr passen; vielleicht werde daraus Kenigsgrad …

Was für eine Identität werden die Bewohner des zukünftigen Kenigsgrad sich selbst zuschreiben? Boos hat nach seinen Worten von Präsident Putin die Aufgabe erhalten, das Gebiet als Modell für ganz Rußland in Europa zu integrieren. Er kann sich Königsberg gut „als Bestandteil des europäischen Raums“ vorstellen, mit visumfreier Ein- und Ausreise und freiem Handelsverkehr. Die einzige Schwierigkeit sieht er im Verhältnis zur Nato. Zur Frage nach der Identität der Bewohner des zukünftigen Kenigsgrad meint Boos: „Sie werden sich als russische Europäer betrachten.“

Einige Journalisten witzelten, der sprachliche Unterschied zwischen „Russen“ und „Preußen“ sei gering. Der Zar wurde „Herrscher aller Reußen“ genannt; das klingt fast wie „Preußen“. Es entstehe in dem Gebiet also vielleicht ein russisches Preußen, und die Einwohner des zukünftigen Kenigsgrad seien dann die Nachfolger der Preußen: russische Preußen.

So wie Boos den Namen „Kenigsgrad“ ins Spiel bringt, war 1990 vorgeschlagen worden, Leningrad in „Petrograd“ umzubenennen, um das deutsch klingende „Sankt Petersburg“ zu vermeiden. Der russische Hang zur „Istina“, zur Wahrheit und Echtheit, führte aber dazu, daß St. Petersburg seinen ursprünglichen Namen wiedererhielt.

Der Kaliningrader Bürgermeister Jurij Sawenko überreichte am 1. Juli verdienten Bürgern den „Begeisterung“ genannten Preis der Stadt. Eine Preisträgerin war Swetlana Sokolova, die für die Ritterspiele geehrt wurde, die sie 2005 zum 750jährigen Stadtjubiläum unter der Bezeichnung „Regiomons – 2005 – Korolewskaja Gora“ organisiert hatte. Auf lateinisch und russisch bedeuten diese Namen: Königsberg.

Der französische Lyriker und Literaturtheoretiker Michel Deguy hat vor einigen Jahren vorgeschlagen,  wie das Gebiet in Europa integriert werden sollte: „Wir lassen uns gefallen, daß der obskure und zweifellos mörderische Kalinin, dem Lexikon zufolge ein ,Werkzeug Stalins‘ – blutiger Nebel erhebt sich vor unseren Augen …-, mit seinem Namen den Namen des Moses von Europa zudeckt. … Wenn es einen Ort der Erinnerung gibt, dann diese Stadt, die ihren deutschen Namen zurückbekommen muß. Die Erinnerung an Kant muß in die Straßen und auf die Ladenschilder zurückkehren, wie die Erinnerung an Joyce nach Dublin zurückgekehrt ist. Königsberg zur „europäischen Kulturhauptstadt“ zu proklamieren, und sei es bloß für ein Jahr, ist das mindeste, was an Wiedergutmachung zu leisten wäre.“

 

Einen Leitfaden für sein Handeln kann Gouverneur Boos auch den Werken Kants entnehmen. Der letzte Satz aus Kants Schrift „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ eignet sich dazu, im Dienstzimmer des Gouverneurs groß an die Wand geschrieben zu werden, so daß Boos ihn immer vor Augen hätte:

„Wenn denn die Natur unter dieser harten Hülle den Keim, für den sie am zärtlichsten sorgt, nämlich den Hang und Beruf zum freien Denken, ausgewickelt hat: so wirkt dieser allmählich zurück auf die Sinnesart des Volks (wodurch dieses der Freiheit zu handeln nach und nach fähiger wird), und endlich auch sogar auf die Grundsätze der Regierung, die es ihr selbst zuträglich findet, den Menschen, der nun mehr als Maschine ist, seiner Würde gemäß zu behandeln.

Königsberg in Preußen, den 30. Septemb. 1784.

I. Kant.

 

Die Bewohner Kaliningrads betrachten Kant schon seit langem als ihren Landsmann. Wenn sie frei entscheiden können, steht zu erwarten, daß die Stadt, in der sie leben, bald wieder Königsberg heißt. 

© 2007 Gerfried Horst

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