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Dr. Dieter Freiherr von Schrötter: Der Einfluss Kants auf die Gebrüder Schrötter und die Preußischen Reformen

 

Der Weltbürger Immanuel Kant , so nannte ihn sein Schüler, Freund und Biograph Jachmann, kannte die Welt aus eigener Erfahrung recht wenig; er war bekanntermaßen recht reisescheu. Umso bemerkenswerter ist es, dass er, nach seinen Maßstäben gemessen, die Strapazen auf sich nahm, recht häufig Gast im Gut der Familie von Schrötter zu sein, im von Königsberg ca. 60 km entfernten Wohnsdorf, dem heutigen Kurortnoje.


Jachmann schreibt: „Mir ist nur ein einziges Haus bekannt, das in meilenweiter Entfernung von Königsberg sehr oft auf mehrere Tage von unserem Weltweisen besucht worden ist und wo er sich ganz nach seinem Geschmack glücklich gefühlt hat, nämlich das väterliche Haus des Ministers und des Kanzlers von Schrötter zu Wohnsdorf. Kant wußte nicht genug zu rühmen, welche Humanität in diesem Haus seines Freundes geherrscht habe und mit welcher ausgezeichneten Freundschaft er von dem vortrefflichen Mann, gegen den er noch im Alter die größte Hochachtung hegte, stets aufgenommen worden ist. Besonders versicherte er deshalb hier die angenehmste ländliche Erholung gefunden zu haben, weil sein humaner Gastfreund ihn nie eingeschränkt habe, ganz wie in seinem eigenen Hause, nach seinem Geschmack zu leben.“ Auch die Tatsache, dass Kant zu Hause in Königsberg recht häufig die Mittagsgesellschaften des Ministers Friedrich Leopold von Schrötter besuchte, zeigt, wie sehr Kant mit der Familie von Schrötter befreundet war.


Wer waren diese Schrötters, wie und woher kam die Familie nach Ost-Preußen?


Die von Schröttersche Familie ist schon seit 1203 als am Hoch- und am Oberrhein nachgewiesener schweizerischer und alemannischer Ministerialadel bekannt. Anfang des 16. Jahrhunderts geht Augustin von Schrötter mit dem Deutschen Ritterorden nach Königsberg. Dessen Urenkel Johannes von Schrötter tritt in polnische Dienste ein. Er erreicht als Mitglied des polnischen Ritterstands die höchsten Ämter, wird Vize-Schatzmeister von Litauen und General-Postmeister des polnisch-litauischen Königreichs. Dies versetzt ihn materiell in die Lage, im Jahre 1683 am Türkenkrieg von König Johann III. Sobieski mit einem auf eigene Kosten ausgerüsteten Dragonerregiment teilzunehmen. Wien ist bereits zwei Monate vom osmanischen Heer eingeschlossen, seine Eroberung durch die Türken nur noch eine Frage der Zeit, als am 12. September 1683 die alles entscheidende Schlacht am Kahlenberg stattfindet. Ausschlaggebend für den völligen Sieg über die Türken und damit die Befreiung Wiens und den Beginn der Rückeroberung Ungarns ist die Schlagkraft der polnischen Kavallerie. Damit zählt auch Johannes von Schrötter zu den Siegern dieses Feldzugs und wird als Belohnung für seinen militärischen Beitrag am 13.3.1700 vom Kaiser des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation Leopold I. zum Reichsfreiherrn und Magnaten von Ungarn ernannt.


Kurz danach ging Johannes von Schrötter nach Ostpreußen zurück. 1702 erwarb er das Gut Wohnsdorf mit der aus dem 14. Jahrhundert stammenden Ordensburg. Deren Torturm ist heute nach der völligen Zerstörung Königsbergs das einzige noch vorhandene Gebäude, in dem Kant nachweislich gewohnt hat.
Hier wurden 1743 Friedrich Leopold von Schrötter, der spätere Minister, und 1748 dessen Bruder Carl Wilhelm, der spätere Kanzler, geboren. Hier wuchsen sie auf. Nach einer militärischen Karriere wurde Friedrich Leopold 1791 zum Minister von Ost- und Westpreußen ernannt. Carl Wilhelm schlug die juristische und Verwaltungslaufbahn ein und wurde 1803 zum Kanzler des Königreichs Preußen ernannt.
Beide Brüder hatten sowohl in Königsberg wie in Wohnsdorf häufigen Kontakt mit Kant, der schon mit ihrem Vater Friedrich Wilhelm recht eng befreundet war. Kant prägte mit seinen aufklärerischen Ideen die Universität Königsberg, die heute seinen Namen trägt, damit die gesamte gebildete junge Generation Ostpreußens und damit auch die Gebrüder von Schrötter.


Die Grundgedanken der Aufklärung und Kants im speziellen müssen hier nicht näher dargelegt werden. Es reicht, aus der 1784 erschienenen Schrift „Was ist Aufklärung?“ kurz zu zitieren: „Aufklärung ist der Aus-gang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“ Gleiche Menschenrechte für alle Menschen, Mündigkeit eines jeden Menschen, das aus dem Kategorischen Imperativ abgeleitete Prinzip der gegenseitigen Toleranz und der Sittlichkeit, Zweifel an bisher gültigen Wahrheiten – diese Grundprinzipien Kants gingen in das Denken zahl-reicher Königsberger Studentengenerationen ein. Aber das Zeitalter Kants war nach seiner eigenen Aussage zwar das Zeitalter der Aufklärung, aber mitnichten ein aufgeklärtes Zeitalter. Das hieß, dass die Ideen der Aufklärung umstritten waren, keineswegs ohne heftige politische Auseinandersetzung umzusetzen waren. Oder anders ausgedrückt, es bedurfte außerordentlicher äußerer Umstände, um die politischen Schlussfolgerungen aus Kants Philosophie zu ziehen, eine umfassende Reformpolitik in ganz Preußen umzusetzen.


1806 ereignete sich dieser außerordentliche äußere Umstand. Preußen erlitt in der Doppelschlacht von Jena und Auerstädt gegen Napoleon eine vernichtende militärische Niederlage. Es verlor zwei Drittel seines Staatsgebiets, musste enorme Kontributionen zahlen und blieb weitgehend besetzt. Im Selbstverständnis fast noch schlimmer war, dass es aus dem Kreis der europäischen Großmächte ausschied und auf den Status eines Vasallenstaates Frankreichs herabsank. In Preußen begriffen die führenden politischen Kräfte, darunter die beiden Schrötters, dass nur durch eine radikale Modernisierung von Staat und Gesellschaft dieser französischen Herausforderung begegnet werden konnte.


Nebenbei gesagt: Modernisierungsprozesse in Vergangenheit und Gegenwart und in den verschiedenen Teilen der Welt sind nicht nur ein Thema von Fachhistorikern, sondern stoßen angesichts des weltweiten Globalisierungsprozesses auch auf aktuelles Interesse, gerade auch hier in Russland. Insofern sind die preußischen Reformen von ihren Leitgedanken auch als heutiger politischer Wegweiser durchaus relevant.


Der zentrale Ansatz der preußischen Reformer wie der dann eingeleiteten Reformen war ein zweifacher:

1. Die Gesundung des Staates und das hieß konkret, die Abschüttlung der französischen Fremdherrschaft, konnte nur durch eine umfassende gesellschaftliche Mobilisierung er-reicht werden;

2. Die gesellschaftliche Befreiung war auch die Voraussetzung einer wirtschaftlichen Modernisierung und damit eines wirtschaftlichen Aufschwungs. Natürlich gab es Meinungsverschiedenheiten und Auseinandersetzungen zwischen den Reformern, aber in den Grundsätzen waren sie sich einig.

Aus den Untertanen des Königs sollten Bürger des Staates werden. Aus Objekten der Politik sollten die Menschen Subjekte derselben werden. Modernisierung hieß damit gesellschaftliche und politische Partizipation. Die verkrustete Ständegesellschaft sollte in eine lebendige Zivilgesellschaft umgewandelt werden, und das in kürzester Zeit.


Positiv war, dass die preußischen Reformer auf zwei Errungenschaften Preußens zurückgreifen konnten. Unter dem „Soldatenkönig“ Friedrich Wilhelm I. und vor allem unter Friedrich dem Großen setzten sich im Laufe des 18. Jahrhunderts die von der Aufklärung inspirierten preußischen Tugenden durch: Pflichterfüllung, Gerechtigkeits- und Ordnungs-sinn, Verlässlichkeit, Redlichkeit, Fleiß, Treue. Beispielhaft für eine solche Grundhaltung lässt Theodor Fontane, der preußische Schriftsteller schlechthin, in seinem Roman „Der Stechlin“ einen Offizier sagen: „Die wirklich Vornehmen gehorchen nicht einem Machthaber, sondern einem Gefühl der Pflicht“. Noch wichtiger war, dass unter Friedrich dem Großen Preußen Rechtsstaat und damit, jedenfalls bis zur Französischen Revolution, zum modernsten Staat Europas wurde. Gesetzessstaat war Preußen schon vorher und auch heute sind alle Staaten der Erde Gesetzes-staaten, das heißt so gut wie nichts. Rechtsstaat bedeutet aber, dass vor dem Gesetz alle Menschen gleich sind, selbst der König, dass es eine wirklich unabhängige Rechtsprechung gibt.


Die preußischen Reformer fingen also nicht am „Punkt Null“ an, das lässt sich vor allem am Wirken der Brüder von Schrötter aufzeigen, die bereits vor 1806 in einem begrenzten Wirkungsfeld zentrale Inhalte der Reformpolitik, zum Beispiel die Bauernbefreiung, in die Praxis umsetzten, doch dazu später.


Die einzelnen aufeinander bezogenen Reformmaßnahmen sollen hier nur stichwortartig benannt werden:

  • Staatsreform, d.h. Reform der obersten Staatsverwaltung durch Bündelung und Vereinfachung der Zuständigkeiten; Einrichtung von zentralen Ministerien und eines Regierungskabinetts, in dem die verantwortlichen Minister mit dem König zusammen die politischen Entscheidungen fällten
     

  • Bauernbefreiung, Abschaffung der Leibeigenschaft, d.h. jeder Bauer konnte nun seinen Wohnort selbst wählen, das bedeutet auch Abschaffung der Standesschranken auf wirtschaftlichem Gebiet, jeder konnte nun Landgüter kaufen oder verkaufen
     

  • Gewerbefreiheit, d.h. Auflösung der noch mittelalterlichen Zünfte. Jeder konnte nun jeden Beruf ergreifen, Einführung wirtschaftsliberaler Prinzipien und Durchsetzung des Konkurrenzprinzips
     

  • Steuerreform, steuerliche Gleichbehandlung aller Landesteile so-wie steuerrechtliche Gleichbehandlung aller Staatsbürger
     

  • Städtereform durch eine neue Städteordnung, kommunale Selbstverwaltung und, wenn auch noch sehr begrenzt, demokratische Bürgerbeteiligung bei der Wahl von Bürgermeistern und Stadtverordneten
     

  • Bildungsreform, d.h. energischer Ausbau einer deutlich zu verbessernden allgemeinen Grundbildung, gymnasiale humanistische Ausbildung als Voraussetzung für ein Studium, Freiheit von Forschung und Lehre an den Universitäten
     

  • Heeresreform, d.h. Volksheer mit der allgemeinen Wehrpflicht als Ergänzung zum stehenden Heer, Abschaffung der Prügelstrafe, Öffnung der Offizierslaufbahn auch für Bürgerliche
    Judenemanzipation, d.h. rechtliche Gleichstellung der Juden,
     

  • Niederlassungs- und Gewerbefreiheit

 

Was ist nun die Rolle der Brüder von Schrötter in dieser Reformpolitik? Ihr Beitrag ist nur auf dem Hintergrund ihrer Heimat Ostpreußen zu verstehen. Denn Ostpreußen war der Hauptsitz der Reformbewegung. Der entscheidende Anstoß ging von hier, von Königsberg aus: von der Stadt Kants und seiner Universität.


Die Königsberger Gesellschaft lebte damals ohne viel Unterschied des Standes. Sie war Schauplatz einer blühenden Geselligkeit, in der sich adlige und bürgerliche Elemente, höhere Beamte, Gelehrte, Kaufleute in unbefangenem Austausch begegneten. Geistig geprägt wurde diese Gesellschaft - es kann nicht deutlich genug betont werden - philosophisch von Immanuel Kant und – dies ist jetzt hinzuzufügen - wirtschaftstheoretisch von Christian Jakob Kraus. Dieser, dreißig Jahre jünger als Kant, hatte bei diesem studiert und war auf dessen Empfehlung hin 1781 als Philosoph und Ökonom an die Königsberger Universität berufen worden. Seine Bedeutung liegt darin, dass er als erster in Preußen die Lehren von Adam Smith verkündete und maßgeblich zur Verbreitung von dessen Ansichten in ganz Deutschland beitrug.

Kants Biograph Jachmann beschreibt das Verhältnis der beiden Männer zueinander folgendermaßen: „Eine ganz besonders hochachtungsvolle Freundschaft bewies Kant gegen den Professor Kraus. Er sprach täglich von ihm in den Ausdrücken einer wahrhaften Verehrung und versicherte, dass er die Gelehrsamkeit und den Eifer des großen Mannes ebenso sehr bewunderte, als er dessen Charakter schätze und liebe. Dass die Freundschaft dieser beiden Männer vertraut und innig war, folgt schon daraus, dass Professor Kraus solange ein täglicher Tischgenosse Kants war, bis Kraus sich selbst seinen eigenen Haushalt einrichtete.“


Kraus war Anhänger von Adam Smith und dessen Lehre, dass alle wirtschaftlichen Kräfte sich in freien Wettbewerb betätigen müssen. Dazu gehörten natürlich die persönliche Freiheit und die rechtliche Gleichstellung aller Staatsbürger. Damit erschütterte neben Kant ein zweiter Königsberger Professor die weltanschauliche Grundlage des bisherigen absolutistischen Systems und der ständischen Gliederung des Volkes. Von dem Minister Friedrich Leopold von Schrötter wurde Kraus so sehr geschätzt, dass es allen Anwärtern für den Finanzdienst im Schrötterschen Ministerium zur Pflicht gemacht wurde, ihre Befähigung durch Universitätszeugnisse von Kraus nachzuweisen.


Festzuhalten ist also, dass bereits vor der durch die Katastrophe Preußens initiierten Reformpolitik es in Königsberg als die große Aufgabe der Epoche galt, für Freiheit und Menschenwürde, gegen die Fesseln des Feudalismus und der Despotie zu kämpfen, Spielraum zu schaffen für die moralische, intellektuelle und wirtschaftliche Selbstentwicklung des Individuums. In erstaunlichem Maße war vor allem das höhere Beamtentum Ostpreußens, großenteils dem einheimischen Adel entstammend, mit den an der Universität gepredigten neuen Ideen durchdrungen. Beispiel dafür sind die Brüder von Schrötter.


Die besondere Bedeutung besonders von Friedrich Leopold von Schrötter liegt darin, dass er den Kern der preußischen Reformen, die Bauernbefreiung, wie auch andere wichtige Bestandteile dieser Reformpolitik – Verwaltungs- und Justizreform – bereits vor der eigentlichen Reformepoche, also bereits im 18. Jahrhundert, in seinem regionalen Wirkungsbereich in die Praxis umsetzte.
Durch die zweite und dritte polnische Teilung von 1793 und 1795 erhielt Preußen sehr große Gebiete. 1793 wurde das Gebiet um Posen, Gnesen und Kalisch als „Südpreußen“ annektiert, 1795 das Gebiet östlich und südlich von Ostpreußen als „Neuostpreußen“. Bereits durch die erste polnische Teilung im Jahr 1772 war das Gebiet zwischen Pommern und Ostpreußen als neue Provinz „Westpreußen“ einverleibt worden. Friedrich Leopold von Schrötter leitete 1791-1795 als Oberpräsident die ost- und westpreußischen Kammern, wurde 1795 Minister für Ost- und Westpreußen und zugleich als Vizepräsident in das Berliner Generaldirektorium berufen und 1796 mit der Oberaufsicht über das damals völlig rückständige Neuostpreußen betraut.


Einer der besten Kenner der Geschichte Ost- und Westpreußens, Bruno Schumacher, würdigt die Tätigkeit Schrötters in den ihm anvertrauten Gebieten folgendermaßen: „Dieses ganze Ostgebiet, das alte und das neue, fand seinen Friedrich Wilhelm I. und Friedrich den Großen nicht in der Person der königlichen Nachfolger, sondern in der Person eines der ganz großen Verwaltungsmänner Preußens, der hier selbständig arbeiten konnte, in der Person des Ostpreußen Freiherrn Friedrich Leopold von Schroetter“.


Als erstes organisierte Schrötter in Neuostpreußen, wo man ja völliges Neuland vor sich hatte, Verwaltung und Justiz völlig neu. Bahnbrechend für den späteren inneren Neubau des Gesamtstaates ist das Reglement Schrötters vom 3.3.1797 geworden, durch das die Befugnisse der obersten Landesbehörden in Neuostpreußen gegeneinander abgegrenzt wurden. Dem Kantschen Grundsatz der Gewaltenteilung folgend erfolgte erstmalig die völlige und scharfe Trennung von Justiz und Verwaltung. Dieser wichtige Grundsatz wurde 1804 auf Ostpreußen und mit Verordnung vom 26.12.1808 auf ganz Preußen ausgedehnt. In der „Nassauer Denkschrift“ von 1807 hatte Freiherr vom Stein auf die wegweisende Bedeutung jener neuostpreußischen Verwaltungsordnung Schrötters ausdrücklich aufmerksam gemacht.


Insgesamt noch weitausbedeutender ist die Rolle der beiden Brüder von Schrötter bei der Bauernbefreiung. So bezeichnete einer der Altmeister der deutschen Geschichtsschreibung, der Freiburger Historiker Gerhard Ritter, Friedrich Leopold von Schrötter gar als den „Bauernbefreier“. Die Absicht der Urheber der Bauernbefreiung war vor allem eine staatspolitische, gegenüber der die wirtschaftlichen Gesichtspunkte erst an zweiter Stelle kamen. Kant hatte die Erbuntertänigkeit als Absurdität bezeichnet, als Sünde des Despotismus. Die Abschaffung dieser Erbuntertänigkeit, die Kraus „ein Recht, Unrecht zu tun“, „eine erbliche Gefangenschaft“ genannt hatte, wurde philosophisch mit dem Recht vernünftiger Wesen auf Selbstbestimmung begründet. An die Stelle ewiger Bevormundung sollte die freie selbstverantwortliche Tätigkeit jedes einzelnen treten. Die alten feudalen Zwischenherrschaften zwischen dem Thron und den Untertanen sollten beseitigt werden, damit wurde der alte Dreiständestaat grundsätzliche preisgegeben. Insofern war die Bauernbefreiung das Fundament der gesamten Reformpolitik. Ohne diese Voraussetzung war es aussichtslos, die altpreußische Monarchie zu einem wirklich modernen Staatswesen umzubilden.


Die von Friedrich Leopold von Schrötter angestrebte Herauslösung der Bauern aus allen bisherigen Bindungen der Grundherrschaft wurde von ihm bereits 1796 mit einer durchgreifenden Agrarreform auf den staatlichen Domänen in Neuostpreußen eingeleitet, dann auf West- und Ost-Preußen ausgeweitet. An die Stelle der Erbuntertänigkeit trat die Erbpacht, gefördert wurde die Entstehung völlig selbstherrlicher Einzelhöfe. In Westpreußen war die Bauernbefreiung auf den Staatsgütern bereits 1802 abgeschlossen. Schwieriger war es, den grundbesitzenden Adel in West- und vor allem in Ostpreußen für die Agrarreform zu gewinnen. Unterstützt wurde Friedrich Leopold dabei durch seinen Bruder Carl Wilhelm, der seit 1803 Chefpräsident der Westpreußischen Regierung in Marienwerder mit dem Titel eines „Kanzlers im Königreich Preußen“ war.

Die Brüder von Schrötter gingen mit gutem Beispiel voran, indem sie auf ihren eigenen Gütern freiwillig die Leibeigenschaft aufhoben. Doch ohne gesetzliche Grundlage kam das Reformwerk ins Stocken. Erst nach dem Zusammenbruch Preußens 1806/07 gingen die Grundbesitzer Ost- und Westpreußens mit der freiwilligen Aufhebung der Gutsuntertänigkeit sämtlichen anderen Provinzen des Staates voran. Die treibenden Kräfte dabei waren die Brüder von Schrötter.


Der Minister von Schrötter unternahm am 17.8.1807 den entscheidenden Schritt, indem er dem Kabinett eine große Reformschrift zur Agrarreform vorlegte. Er forderte darin nichts geringeres als ein umfassendes Reformgesetz, das alles auf einmal bringen sollte, Bauernbefreiung, Gewerbefreiheit, Beseitigung des Zunftzwangs, Niederreißen aller Schranken, die bisher den einen Stand von dem anderen getrennt und der freien Verwertung des Grundbesitzes im Sinne einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung im Wege gestanden hatten. Künftig sollte der Bauer und Bürger adlige Grundstücke ohne besondere Erlaubnis erwerben können, der Adlige ohne Nachteil seines Standes befugt sein, bürgerliche Gewerbe zu betreiben.

Diese Denkschrift bildete die Vorlage für das die preußischen Reformen praktisch einleitende Edikt vom 9.10.1807 „den erleichterten Besitz und den freien Gebrauch des Grundeigentums sowie die persönlichen Verhältnisse der Landbewohner betreffend“. Dieses Edikt beinhaltete nicht nur die Auflösung der Gutsuntertänigkeit, also die Bauernbefreiung, sondern auch Freiheit des Güterverkehrs, freie Wahl des Gewerbes, Staatsminister Freiherr vom Stein, mit dessen Namen die preußischen Reformen bis heute verbunden sind, hielt darauf, dass nicht er allein die Gegenzeichnung der Gesetze vornahm, sondern als der Dienstältere vor ihm auch noch der Minister von Schrötter. Da zu dieser Zeit dessen jüngerer Bruder Carl Wilhelm interimistisch das Justizministerium leitete, rahmen die Unterschriften der Gebrüder von Schrötter diejenige des Freiherrn vom Stein unter diesem zentralen Reformedikt ein.


Abschließend sollen am Beispiel der von Friedrich Leopold von Schrötter angestoßenen Judenemanzipation die Grenzen des Einflusses der Aufklärung aufgezeigt werden.


Emanzipation der Juden meint in erster Linie die rechtlichpolitische Freisetzung von ihren alten Beschränkungen als Minderheit, durch die sie seit Jahrhunderten von der allgemeinen Gesellschaft ausgeschlossen waren. In dieser Lage befanden sich die Juden auch im aufgeklärt-absolutistischen Preußen Friedrichs des Großen. Staatliche Einschränkungen und bürokratische Kontrolle jüdischen Lebens und jüdischer Aktivitäten waren die Regel. So wurde streng darauf geachtet, dass die Zahl der jüdischen Einwohner Preußens begrenzt blieb. Erreicht wurde dies durch die Vorschrift, dass alle Kinder bis auf eines entweder außer Landes gehen oder unverheiratet in den Dienst eines anerkannten Schutzjuden treten mussten. Noch um die Jahrhundertwende verschlechterte sich die rechtliche Situation der Juden. Erst der Zusammenbruch Preußens änderte die Lage grundlegend.


Eine Lösung der Judenfrage hing dabei nicht von der persönlichen Einstellung einzelner Politiker oder Beamter ab, sondern ergab sich not-wendig aus der Gesamtzielsetzung der preußischen Reformen. Zur Gesundung Preußens durch eine umfassende Modernisierung war auf die Innovationsfähigkeit der Juden wie auf die jüdische Finanzkraft nicht zu verzichten.


Der erste Anstoß für ein Emanzipationsgesetz ging von dem Minister von Schrötter aus, der am 8.11.1808 dem König von sich aus einen eindrücklichen und detailliert ausgearbeiteten Gesetzestext zugunsten einer völligen Reform des Judenwesens vorlegte. Das grundlegende Prinzip Schrötters war dabei das der „gleichen bürgerlichen Rechte aber auch der gleichen bürgerlichen Pflichten“.


Schrötter war keineswegs als Freund der Juden bekannt, ganz im Gegenteil. Aber er hatte die Unausweichlichkeit der Judenemanzipation eingesehen. Wie er selbst betonte, ging es ihm zuerst einmal um die Zersetzung der jüdischen Gemeinde, um eine „Denationalisation“ der Judenschaft. Er schrieb: „Der Zweck müsse sein: Ihre Nationalität zu untergraben und sie dazu zu bringen, keinen Staat im Staate zu bilden, das Geld aus ihren Händen wieder unter die Christen zu bringen.“


Der Gedanke der Entnationalisierung der Juden war zu dieser Zeit keineswegs neu. Er lag auch der Judenemanzipation im revolutionären Frankreich zugrunde, wo es hieß: „Den Juden als Nation muss man alles verweigern, als Individuen muss man ihnen alles zugestehen“. 1791 wurde den Juden dort die völlige Gleichberechtigung gewährt. Im Gegensatz dazu enthielt der Schröttersche Entwurf zahlreiche Einschränkungen und Ausnahmeregelungen wie den Ausschluss von allen öffentlichen Ämtern sowie schwerwiegende Einschränkungen der Gewerbefreiheit zum „Schutz“ der nichtjüdischen Gewerbetreibenden. Der Unterschied der Intention bei der Bauern- und der Judenbefreiung lässt sich bei Schrötter klar festmachen. Beide Reformen sollen die jeweiligen betroffenen Bevölkerungsgruppen einerseits enger an den Staat binden, andererseits zum wirtschaftlichen und damit politischen Wiederaufstieg Preußens beitragen. Während jedoch die Notwendigkeit der Bauernbefreiung in Preußen aus den naturrechtlich abgeleiteten allgemeinen Menschenrechten abgeleitet wird, wird die Unvermeidbarkeit der Judenemanzipation staatspolitisch mit einer notwendigen Stärkung von Wirtschaft und Staat begründet.


Der Schröttersche Entwurf der Judenemanzipation ist zwar nicht Gesetz geworden, hat jedoch erhebliche Wirkung gehabt. Nach dem erzwungenen Abgang Steins im Jahre 1808 blieb er zuerst unbeachtet, wurde dann von Staatskanzler von Hardenberg im Jahr 1811 wieder aufgenommen. Der endgültige Entwurf des Justizministeriums fußte deutlich auf dem Schrötterschen Plan, am 11.3.1812 wurde das Emanzipationsgesetz vom König unterzeichnet. Festgeschrieben ist das freie Ansiedlungsrecht in Stadt und Land, das Recht auf Grundbesitz, die Gewerbefreiheit, die Abschaffung aller Sonderabgaben, die Militärpflicht, freie Ehe, die privatrechtliche Gleichstellung. Allerdings wurde am Schrötterschen Prinzip der „Fernhaltung der Juden vom Staat“ festgehalten, öffentliche Ämter waren ihnen also weiterhin verwehrt.


Festzuhalten ist, dass auf die Initiative Friedrich Leopolds von Schrötters hin Preußen nach Frankreich der erste europäische Staat war, der die Judenemanzipation realisierte, es eindeutig die Vorreiterrolle für
Deutschland übernahm. Erst fünfzig Jahre später setzte das Großherzogtum Baden als erster deutscher Staat die uneingeschränkte Gleichberechtigung der Juden durch. Erst als die Schweiz 1874 das Recht auf freie Religionsausübung garantierte, war der von der Aufklärung angestoßene und getragene Emanzipationsprozess in ganz West- und Mitteleuropa abgeschlossen.

 

Betrachtet man die preußischen Reformen als Ganzes, kann man folgendes Resumée ziehen: Das Verdienst aller preußischen Reformer liegt darin, dass sie die Niederlage Preußens im Jahr 1806 als historische Chance begriffen, den Feudalismus zu überwinden und einen um-fassenden gesellschaftlichen Modernisierungsprozess tatkräftig einzuleiten.

Die Tragik der preußischen und damit auch der deutschen Geschichte liegt darin, dass die von Kantschem Geist inspirierten preußischen Re-formen nicht nur nicht weiterentwickelt, sondern im Kern revidiert wurden. Die sog. „Heilige Allianz“ zwischen den reaktionären Regimen Preußens, Russlands und Österreichs beschränkte den Modernisierungsprozess auf den technokratischen Aspekt, der demokratische Grundgedanke einer engagierten lebendigen Zivilgesellschaft wurde beseitigt. Nach der blutigen Niederschlagung der demokratischen Revolutionen von 1848/49 setzte sich in Preußen und von dort ausgehend in ganz Deutschland der Obrigkeitsstaat endgültig durch. Das bismarcksche und wilhelminische System förderte eine politische Kultur, die emanzipations- und demokratiefeindlich war, die preußischen Tugenden wie Pflichtbewusstsein oder Treue wurden pervertiert.


Das Gift eines aus dem Kaiserreich stammenden antidemokratischen obrigkeitsstattlichen Denkens, eine antihumanistische Grundhaltung und ein aggressiver chauvinistischer Nationalismus zerstörten die Weimarer Republik , hatten das verbrecherische Dritte Reich zur Folge.


Am Ende stand 1945 der Untergang Preußens, die Auslöschung Ost-Preußens. Aber, und das ist das hoffnungsfrohe Zeichen, Staaten können besiegt werden, die Ideen der Aufklärung nicht. Die Grundprinzipien des Weltbürgers Immanuel Kant können bis heute einen weltweiten, wenn auch äußerst opferreichen Siegeszug verzeichnen. Die Ideen von der Gleichheit der Menschen, der Toleranz , des ewigen Friedens, haben sich in der Charta der Vereinten Nationen, die alle Staaten dieser Erde unterschrieben haben, niedergeschlagen.

Sie sind lebendig, auch in der Heimatstadt Kants, im heute russischen Königsberg.

© 2011 Dr. Dieter Freiherr von Schrötter

 

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