
Kant als Lehrer der Ungelehrte
Kants Werke, Akademie Textausgabe Band I, S. 429 - 462
Geschichte und Naturbeschreibung der merkwürdigsten Vorfälle des Erdbebens, welches an dem Ende des 1755sten Jahres einen großen Theil der Erde erschüttert hat,
von M. Immanuel Kant.
Die Natur hat nicht vergeblich einen Schatz von Seltenheiten überall zur Betrachtung und Bewunderung ausgebreitet. Der Mensch, welchem die Haushaltung des Erdbodens anvertraut ist, besitzt Fähigkeit, er besitzt auch Lust sie kennen zu lernen und preiset den Schöpfer durch seine Einsichten. Selbst die fürchterliche Werkzeuge der Heimsuchung des menschlichen Geschlechts, die Erschütterungen der Länder, die Wuth des in seinem Grunde bewegten Meers, die feuerspeienden Berge, fordern den Menschen zur Betrachtung auf und sind nicht weniger von Gott als eine richtige Folge aus beständigen Gesetzen in die Natur gepflanzt, als andre schon gewohnte Ursachen der Ungemächlichkeit, die man nur darum für natürlicher hält, weil man mit ihnen mehr bekannt ist.
Die Betrachtung solcher schrecklichen Zufälle ist lehrreich. Sie demüthigt den Menschen dadurch, daß sie ihn sehen läßt, er habe kein Recht, oder zum wenigsten, er habe es verloren, von den Naturgesetzen, die Gott angeordnet hat, lauter bequemliche Folgen zu erwarten, und er lernt vielleicht auch auf diese Weise einsehen: daß dieser Tummelplatz seiner Begierden billig nicht das Ziel aller seiner Absichten enthalten sollte.
Ich fange nunmehr von der Geschichte des letztern Erdbebens selber an. Ich verstehe unter derselben keine Geschichte der Unglücksfälle, die die Menschen dadurch erlitten haben, kein Verzeichniß der verheerten Städte und unter ihrem Schutt begrabenen Einwohner. Alles, was die Einbildungskraft sich Schreckliches vorstellen kann, muß man zusammen nehmen, um das Entsetzen sich einigermaßen vorzubilden, darin sich die Menschen befinden müssen, wenn die Erde unter ihren Füßen bewegt wird, wenn alles um sie her einstürzt, wenn ein in seinem Grunde
bewegtes Wasser das Unglück durch Überströmungen vollkommen macht, wenn die Furcht des Todes, die Verzweifelung wegen des völligen Verlusts aller Güter, endlich der Anblick anderer Elenden den standhaftesten Muth niederschlagen. Eine solche Erzählung würde rührend sein, sie würde, weil sie eine Wirkung auf das Herz hat, vielleicht auch eine auf die Besserung desselben haben können. Allein ich überlasse diese Geschichte geschickteren Händen. Ich beschreibe hier nur die Arbeit der Natur, die merkwürdigen natürlichen Umstände, die die schreckliche Begebenheit begleitet haben, und die Ursachen derselben.
Das Erdbeben und die Wasserbewegung vom 1. November 1755.
Der Augenblick, in dem dieser Schlag geschah, scheint am richtigsten auf 9 Uhr 50 Minuten Vormittags zu Lissabon bestimmt zu sein, diese Zeit stimmt genau mit derjenigen, da es in Madrid wahrgenommen worden, nämlich 10 Uhr 17 bis 18 Minuten, wenn man den Unterschied der Länge beider Städte in den Unterschied der Zeit verwandelt. Zu derselben Zeit wurden die Gewässer in einem erstaunlichen Umfange, sowohl diejenigen, die mit dem Weltmeere eine sichtbare Gemeinschaft haben, als auch welche darin auf eine verborgene Art stehen mögen, in Erschütterung gesetzt. Von Abo in Finnland an bis in den Archipelagus von Westindien sind wenig oder gar keine Küsten davon frei geblieben. Sie hat eine Strecke von 1500 Meilen fast in eben derselben Zeit beherrscht. Wenn man versichert wäre, daß die Zeit, darin sie zu Glückstadt an der Elbe verspürt worden, nach den öffentlichen Nachrichten ganz genau auf 11 Uhr 30 Minuten zu setzen wäre, so würde man daraus schließen, daß die Wasserbewegung 15 Minuten zugebracht habe, von Lissabon bis an die holsteinischen Küsten zu gelangen. In eben dieser Zeit wurde sie auch an allen Küsten des Mittelländischen Meeres verspürt, und man weiß noch nicht die ganze Weite ihrer Erstreckung.
Dieses sind die vornehmste Merkwürdigkeiten der Geschichte vom 1sten Nov. und der Wasserbewegung, die die seltenste von ihren Umständen ist. Es ist mir überaus glaublich, daß die Erderschütterungen, die sich dicht am Meeresufer, oder eines Wassers, das damit Gemeinschaft hat, zugetragen haben, zu Cork in Irland, in Glückstadt und hin und wieder in Spanien, größten Theils eben dem Drucke des gepreßten Meerwassers zuzuschreiben sind, dessen Gewalt unglaublich groß sein muß, wenn man die Heftigkeit, womit es anschlägt, durch die Fläche multiplicirt, worauf es trifft, und ich bin der Meinung, das Unglück von Lissabon sei, so wie das von den meisten Städten der westlichen Küste Europens der Lage zuzuschreiben, die es in Ansehung der beregten Gegend des Oceans gehabt hat, da dessen ganze Gewalt noch überdem in der Mündung des Tagus, durch die Enge eines Busens verstärkt, den Boden außerordentlich hat erschüttern müssen. Man mag urtheilen, ob die Erschütterung lediglich in Städten, die am Meeresufer liegen, würde deutlich haben vermerkt werden können, die doch in dem Innern des Landes nicht empfindlich war, wenn nicht der Druck der Wasser einen Antheil an derselben gehabt hätte.
Noch ist die letzte Erscheinung dieser großen Begebenheit merkwürdig, da eine geraume Zeit, nämlich beinahe 1 bis 1 ½ Stunden nach dem Erdbeben, eine entsetzliche Aufthürmung der Wasser im Ocean und eine Aufschwellung des Tagus, die wechselsweise 6 Fuß höher als die höchste Fluth stieg und bald darauf fast so viel niedriger als die niedrigste Ebbe fiel, gesehen wurde. Diese Bewegung des Meeres, die eine geraume Zeit nach dem Erdbeben und nach dem ersten entsetzlichen Drucke der Wasser sich eräugnete, vollendete auch das Verderben der Stadt Setubal, indem es über deren Trümmer sich erhob und, was die Erschütterung verschont hatte, völlig aufrieb. Wenn man sich vorher von der Heftigkeit des durch den bewegten Meeresgrund fortgeschossenen Seewassers einen rechten Begriff gemacht hat, so wird man sich leicht vorstellen können, daß es mit Gewalt wieder zurückkehren müsse, nachdem sich sein Druck in alle die unermeßliche Gegenden umher ausgebreitet hatte. Die Zeit seiner Wiederkehr hängt von dem weiten Umfange ab, in welchem es um sich her gewirkt hat und seine Aufwallung vornehmlich an den Ufern muß nach Maßgebung derselben auch eben so fürchterlich gewesen sein.
Von dem Nutzen der Erdbeben.
Man wird erschrecken eine so fürchterliche Strafruthe der Menschen von der Seite der Nutzbarkeit angepriesen zu sehen. Ich bin gewiß, man würde gerne Verzicht darauf thun, um nur der Furcht und der Gefahren überhoben zu sein, die damit verbunden sind. So sind wir Menschen geartet. Nachdem wir einen widerrechtlichen Anspruch auf alle Annehmlichkeit des Lebens gemacht haben, so wollen wir keine Vortheile mit Unkosten erkaufen. Wir verlangen, der Erdboden soll so beschaffen sein: daß man wünschen könnte darauf ewig zu wohnen. Über dieses bilden wir uns ein, daß wir alles zu unserem Vortheil besser regieren würden, wenn die Vorsehung uns darüber unsere Stimme abgefragt hätte. So wünschen wir z.E. den Regen in unserer Gewalt zu haben, damit wir ihn nach unserer Bequemlichkeit das Jahr über vertheilen könnten und immer angenehme Tage zwischen den trüben zu genießen hätten. Aber wir vergessen die Brunnen, die wir gleichwohl nicht entbehren könnten, und die doch auf solche Art gar nicht würden unterhalten werden. Eben so wissen wir den Nutzen nicht, den uns eben die Ursachen verschaffen könnten, die uns in den Erdbeben erschrecken, und wollten sie doch gerne verbannt wissen.
Als Menschen, die geboren waren, um zu sterben, können wir es nicht vertragen, daß einige im Erdbeben gestorben sind, und als die hier Fremdlinge sind und kein Eigentum besitzen, sind wir untröstlich, daß Güter verloren worden, die in kurzem durch den allgemeinen Weg der Natur von selbst wären verlassen worden.
Es läßt sich leicht rathen: daß, wenn Menschen auf einem Grunde bauen, der mit entzündbaren Materien angefüllt ist, über kurz oder lang die ganze Pracht ihrer Gebäude durch Erschütterungen über den Haufen fallen könne; aber muß man denn darum über die Wege der Vorsehung ungeduldig werden? Wäre es nicht besser also zu urtheilen: Es war nöthig, daß Erdbeben bisweilen auf dem Erdboden geschähen, aber es war nicht nothwendig, daß wir prächtige Wohnplätze darüber erbaueten? Die Einwohner in Peru wohnen in Häusern, die nur in geringer Höhe gemauert sind, und das übrige besteht aus Rohr. Der Mensch muß sich in die Natur schicken lernen, aber er will, daß sie sich in ihn schicken soll.
(Frage: Kann man das besser sagen als Kant?)
Schlußbetrachtung.
Der Anblick so vieler Elenden, als die letztere Katastrophe unter unsern Mitbürgern gemacht hat, soll die Menschenliebe rege machen und uns einen Theil des Unglücks empfinden lassen, welches sie mit solcher Härte betroffen hat. Man verstößt aber gar sehr dawider, wenn man dergleichen Schicksale jederzeit als verhängte Strafgerichte ansieht, die die verheerte Städte um ihrer Übelthaten willen betreffen, und wenn wir diese Unglückselige als das Ziel der Rache Gottes betrachten, über die seine Gerechtigkeit alle ihre Zornschalen ausgießt. Diese Art des Urtheils ist ein sträflicher Vorwitz, der sich anmaßt, die Absichten der göttlichen Rathschlüsse einzusehen und nach seinen Einsichten auszulegen.
Der Mensch ist von sich selbst so eingenommen, daß er sich lediglich als das einzige Ziel der Anstalten Gottes ansieht, gleich als wenn diese kein ander Augenmerk hätten als ihn allein, um die Maßregeln in der Regierung der Welt darnach einzurichten. Wir wissen, daß der ganze Inbegriff der Natur ein würdiger Gegenstand der göttlichen Weisheit und seiner Anstalten sei. Wir sind ein Theil derselben und wollen das Ganze sein. Die Regeln der Vollkommenheit der Natur im Großen sollen in keine Betrachtung kommen, und es soll sich alles bloß in richtiger Beziehung auf uns anschicken.
Was in der Welt zur Bequemlichkeit und dem Vergnügen gereicht, das, stellt man sich vor, sei bloß um unsertwillen da, und die Natur beginne keine Veränderungen, die irgend eine Ursache der Ungemächlichkeit für den Menschen werden, als um sie zu züchtigen, zu drohen oder Rache an ihnen auszuüben.
Gleichwohl sehen wir, daß unendlich viel Bösewichter in Ruhe entschlafen, daß die Erdbeben gewisse Länder von je her erschüttert haben ohne Unterschied der alten oder neuen Einwohner, daß das christliche Peru so gut bewegt wird als das heidnische, und daß viele Städte von dieser Verwüstung von Anbeginn befreiet geblieben, die über jene sich keines Vorzuges der Unsträflichkeit anmaßen können.
So ist der Mensch im Dunkeln, wenn er die Absichten errathen will, die Gott in der Regierung der Welt vor Augen hat. Allein wir sind in keiner Ungewißheit, wenn es auf die Anwendung ankommt, wie wir diese Wege der Vorsehung dem Zwecke derselben gemäß gebrauchen sollen. Der Mensch ist nicht geboren, um auf dieser Schaubühne der Eitelkeit ewige Hütten zu erbauen. Weil sein ganzes Leben ein weit edleres Ziel hat, wie schön stimmen dazu nicht alle die Verheerungen, die der Unbestand der Welt selbst in denjenigen Dingen blicken läßt, die uns die größte und wichtigste zu sein scheinen, um uns zu erinnern: daß die Güter der Erden unserm Triebe zur Glückseligkeit keine Genugthuung verschaffen können!
Ich bin weit davon entfernt hiemit anzudeuten, als wenn der Mensch einem unwandelbaren Schicksale der Naturgesetze ohne Nachsicht auf seine besondere Vortheile überlassen sei. Eben dieselbe höchste Weisheit, von der der Lauf der Natur diejenige Richtigkeit entlehnt, die keiner Ausbesserung bedarf, hat die niederen Zwecke den höheren untergeordnet, und in eben den Absichten, in welchen jene oft die wichtigsten Ausnahmen von den allgemeinen Regeln der Natur gemacht hat, um die unendlich höhere Zwecke zu erreichen, die weit über alle Naturmittel erhaben sind, wird auch die Führung des menschlichen Geschlechts in dem Regimente der Welt selbst dem Laufe der Naturdinge Gesetze vorschreiben. Wenn eine Stadt oder Land das Unheil gewahr wird, womit die göttliche Vorsehung sie oder ihre Nachbarn in Schrecken setzt: ist es denn wohl noch zweifelhaft, welche Partei sie zu ergreifen habe, um dem Verderben vorzubeugen, das ihnen droht, und sind die Zeichen noch wohl zweideutig, die Absichten begreiflich zu machen, zu deren Vollführung alle Wege der Vorsehung einstimmig den Menschen entweder einladen oder antreiben?
Ein Fürst, der, durch ein edles Herz getrieben, sich diese Drangsale des menschlichen Geschlechts bewegen läßt, das Elend des Krieges von denen abzuwenden, welchen von allen Seiten überdem schwere Unglücksfälle drohen, ist ein wohlthätiges Werkzeug in der gütigen Hand Gottes und ein Geschenk, das er den Völkern der Erde macht, dessen Werth sie niemals nach seiner Größe schätzen können.